Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
„Ich mag das Wort Migrationshintergrund nicht“
Ein Gespräch mit Autorin und Moderatorin Linda Zervakis über ihr Buch und die Suche nach ihren Wurzeln
In der „Tagesschau“verkündet die Journalistin und Moderatorin Linda Zervakis die Nachrichten aus aller Welt. Eine besondere Beziehung verbindet die 45-Jährige mit Griechenland, der ursprünglichen Heimat ihrer Eltern. Nun hat sich die Hamburgerin gemeinsam mit ihrer Mutter vor Ort auf die Spuren ihrer Herkunft begeben. Ihre Eindrücke aus Hellas fasst sie in einem unterhaltsamen Buch zusammen. André Wesche sprach mit Linda Zervakis über „Etsikietsi“, griechische Lebensart und die problematische Frage nach der Herkunft.
Frau Zervakis, Sie wurden in Hamburg als Tochter griechischer Gastarbeiter geboren. Ihre Familiengeschichte war allerdings selten ein Gesprächsthema. Warum?
Wir hatten eigentlich nie die Zeit dafür. Wir haben immer gearbeitet. Nach dem Tod meines Vaters war meine Mutter 17 Jahre lang jeden Tag 15 Stunden in dem Kiosk, den wir betrieben haben. Da bleibt einem keine Zeit, um über solche Dinge zu sprechen. Wenn meine Mutter um 21.30 Uhr nach Hause kam, war sie fertig und ist ins Bett gegangen, weil ihr Wecker kurz vor 5 wieder geklingelt hat. Erst als der Kiosk nicht mehr da war, kamen die Geschichten peu à peu zum Vorschein.
Eines Tages hat Ihnen Ihre Mutter quasi ihre Memoiren überreicht. Wussten Sie um deren Existenz? Nein. Sie hat erst mit dem Schreiben angefangen, als sie nicht mehr arbeiten musste. Ich kann mir gut vorstellen, dass sie dann erst mal in eine Art „Zeitloch“gefallen ist, weil sie plötzlich zu viel davon hatte. Sie hat sich die Mühe gemacht, ihre Erinnerungen festzuhalten. Ein paar Dinge wusste ich natürlich schon, weil sie immer mal zwischendurch zur Sprache gekommen sind. Aber vieles war auch neu für mich.
Was hat Sie bei der Lektüre besonders überrascht oder bewegt? Mich hat vor allem bewegt, wie wenig Freiheit meine Eltern und besonders meine Mutter im Vergleich zu mir genossen haben. Obwohl ich in Deutschland auch mehr arbeiten musste als die anderen Kinder. Wenn die Kindergeburtstag gefeiert haben, war ich noch in der griechischen Schule. Am Wochenende sind die anderen ausgegangen, und ich habe im Kiosk mitgeholfen. Es war für mich nicht ganz einfach, aber durch meine Mutter hatte ich auch viele Freiheiten. Ich konnte auf das Gymnasium gehen und es hat keinen Pfennig gekostet. Meine Mutter hätte in Griechenland auch sehr gern eine weiterführende Schule besucht, aber die Familie konnte sich schon das Fahrgeld nicht leisten. Hinzu kam die Tatsache, dass meine Mutter noch einen jüngeren Bruder hatte, in den investiert wurde. Bei meiner Mutter wurde es als wichtig angesehen, dass sie weiß, wie ein Haushalt funktioniert. Sie sollte einfach nur heiraten. Als ich von dieser Freiheitsberaubung gelesen habe, wurde ich wahnsinnig traurig. Wenn ich dieses Thema bei meiner Mutter anrhythmus spreche, sehe ich, wie es sie schmerzt. Gleichzeitig freut sie sich natürlich, dass aus all ihren Kindern etwas geworden ist.
Sie sind dann mit Ihrer Mutter zu einer zehntägigen „Mutter-KindKur“ans Mittelmeer aufgebrochen. Welche Ziele hatten Sie? Meine Mutter ist nicht der Typ, der sich allein in den Flieger setzen würde, um Urlaub zu machen. Deshalb habe ich gesagt: „Mutti, ich habe jetzt Zeit, wir machen das jetzt mal!“. Hinzu kam eine Hochzeit, die im Buch beschrieben wird. Es war schön zu sehen, dass Griechenland auch ein ganz großer Teil von mir ist. Das Buch trägt den Untertitel „Auf der Suche nach meinen Wurzeln“. Ich bin zu der Erkenntnis gelangt, dass ich über diese andere Wurzel in mir sehr froh bin. Ich möchte mich nicht dafür entscheiden, was ich denn nun eigentlich mehr bin, griechisch oder deutsch. Ich trage beides in mir und empfinde das als große Bereicherung. Am Ende kommt es ohnehin immer auf den Charakter und das Wesen eines Menschen an, egal, welche Wurzeln er in sich trägt.
Was können sich Griechen und Deutsche in puncto Lebenseinstellung voneinander abschauen?
Die Deutschen könnten etwas entspannter sein und versuchen, ein bisschen Lockerheit in ihren Alltagszu integrieren. Ich merke das an mir selbst. Wenn ich in Griechenland war, kann ich mir das noch für ein, zwei Monate bewahren. Ich halte mich dann für immun gegen die Alltags-Ordnungsroutine, bis ich feststelle, dass ich hier mit dieser Einstellung untergehe. Umgekehrt wäre ein bisschen mehr Verbindlichkeit nicht schlecht. Viele Griechen, die ich kenne, sind wahnsinnig unpünktlich. Ganz oft heißt es, wir treffen uns um drei. Und dann kommen die Cousine oder der Cousin eben doch erst um vier, ohne vorher nochmal Bescheid zu sagen. Dann heißt es: „Entspann Dich mal, wir haben doch gesagt, wir treffen uns am Nachmittag!“. Trotzdem sind Griechen auch wahnsinnig ordentlich, fleißig und gewissenhaft, auch wenn das manch einer nicht glauben mag. Viele haben zwei oder drei Jobs, um zu überleben. Das bedarf ja einer gewissen Disziplin. Wenn man diese innere Ruhe der Griechen, die nicht alles immer sofort so tragisch nehmen, mit der aufgeregten Mentalität der Deutschen ausgleichen könnte, wäre es wohl die perfekte Mischung.
Ihr Buch wagt auch Ausflüge in Geschichte und Politik. So zeigen Sie, dass Mittelmeer-Flüchtlinge kein Phänomen unserer Zeit sind. Warum waren Ihnen diese Aspekte wichtig?
Sie beschreiben ganz einfach die Realität. All diese Dinge gehören in Griechenland zum Leben dazu. Deshalb war es mir wichtig, auch darauf kurz den Fokus zu halten und nicht so zu tun, als gäbe es kein Problem.
Sie gewähren kurze Einblicke in den Nachrichtenalltag. Der Leser wird sich dabei Sorgen um Ihren chronisch mangelnden Schlaf machen. Haben Sie trotzdem Ihren Traumjob?
Das würde ich schon sagen. Im Buch beschreibe ich, dass die „Tagesschau“bei uns immer wie eine Art Gottesdienst war. Wir hatten um 20 Uhr mucksmäuschenstill vor dem Fernseher zu sitzen. Und wehe, in dieser heiligen Viertelstunde ging das Telefon oder jemand hat gestört! Für meine Mutter ist es immer noch etwas Besonderes, dass ihre Tochter die Nachrichten in der wichtigsten deutschen Fernsehnachrichtensendung präsentiert. Für sie ist es ein Phänomen, ein Traum. Für mich aber auch. Durch die jahrzehntelange Ritualisierung dieser Sendung ist es immer etwas Besonderes für mich. Ich mag diesen Job sehr gerne.
Wurden Sie schon jemals Zielscheibe ausländerfeindlicher Drohmails?
Nein, Gott sei Dank nicht. Wenn, dann hat man mal Beschwerdemails, weil mein Anzug nicht richtig saß oder ich etwas falsch ausgesprochen habe. Nichts, was mit meinen griechischen Wurzeln zu tun hätte. Es gibt immer ein paar allgemein Verwirrte, die den ganzen Tag über meckern und wenn sie zwischen durch mal ein Zeitfenster haben, prominente Personen aus dem Fernsehen beschimpfen: Heute nehme ich mal die Zervakis! Aber das ist wirklich sehr, sehr selten.
Warum ist die neugierige Frage nach der ursprünglichen Herkunft eines offensichtlich aus einem fremden Kulturkreis stammenden Menschen schon rassistisch?
Ich selbst empfinde das nicht als rassistisch. Es stört mich nicht, wenn ich gefragt werde, wo ich herkomme. Ich weiß, was damit gemeint ist. Das hat, so glaube ich, etwas mit dem Jahrgang zu tun. Mein Jahrgang ist 1975. Ich bin in den 80er- und 90er-Jahren sozialisiert worden, und das Fragen gehörte dazu. Inzwischen hat sich das geändert. Ich habe einen Podcast, bei dem auch die halbsyrische Journalistin Salwa Houmsi zu Gast war. Und sie nervt das total. In der jüngeren Generation ist diese Frage, die vielleicht immer unwichtiger wird, äußerst unerwünscht. Wenn man mich fragt, verstehe ich das. Was mich tatsächlich gestört hat – einfach, weil ich vorher nie damit zu tun hatte – war, dass man mich seinerzeit in den Medien immer als „Erste deutsche Tagesschau-Sprecherin mit Migrationshintergrund“vorgestellt hat. Ich mag dieses Wort einfach nicht. Warum hat es nicht genügt, mich als Nachfolgerin von Marc Bator zu präsentieren? Punkt. Ich habe mittlerweile gelernt, dass man jüngeren Menschen diese Frage nicht stellt. Eigentlich geht es doch nur um den Menschen. Entweder magst du einen Menschen oder nicht. Und es ist letztendlich egal, woher er kommt. Das ist eigentlich auch mein Ansatz. Aber deswegen finde ich diese Frage nicht schlimm. Ich kann allerdings verstehen, wenn Andere weniger entspannt damit umgehen.
„Etsikietsi“bedeutet so viel wie „So lala“. Ist das richtig?
Genau. Wenn man in Griechenland gefragt wird, wie es geht, sagt man „Na ja, Etsikietsi“– so und so.
Haben Sie Ihre Mutter um die Erlaubnis gefragt, dieses sehr persönliche Buch veröffentlichen zu dürfen?
Auf jeden Fall! (lacht) Was glauben Sie, was sonst los wäre? Ich habe sie schon beim ersten Buch gefragt und es ist Gott sei Dank abgesegnet worden. In diesem Fall auch, es gab auch keine Einsprüche. Ich habe wirklich damit gerechnet, dass es ihr zu persönlich ist. Deshalb habe ich sie vorne im Buch wie ein Denkmal abbilden lassen. Es ist ihre Ehrung.