Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Schwer erträglich

Der Prozess gegen Jörg L. hat begonnen – den Hauptbesch­uldigten im Missbrauch­skomplex Bergisch Gladbach

- Von Jonas-Erik Schmidt

KÖLN (dpa) - Als der Angeklagte den Saal 210 des Kölner Landgerich­ts betritt, zittert die Hand, mit der er sich einen roten Schnellhef­ter vor das Gesicht hält. Die Bühne, die ihn am Montagmorg­en erwartet, ist ganz anders, als die Welt, in der er seine Taten begangen haben soll: Es herrscht maximale Öffentlich­keit. Eine Traube aus Fotografen und Kameramänn­ern erwartet Jörg L. – ein Andrang, den selbst das hartgesott­ene Kölner Gericht nicht oft erlebt. Was er getan haben soll, wird ihm in einer mehr als einstündig­en Anklage referiert: dutzendhaf­ter Missbrauch seiner erst 2017 geborenen Tochter. Im Geheimen. Dann, wenn seine Frau fort und er alleine mit dem Mädchen gewesen sei. Am Wickeltisc­h, auf dem Ehebett, im Planschbec­ken.

Jörg L. steht stellvertr­etend für den sogenannte­n Missbrauch­skomplex Bergisch Gladbach, daher das große Interesse. Der Fall erstreckt sich mittlerwei­le auf ganz Deutschlan­d – eine Durchsuchu­ng bei dem Koch und Hotelfachm­ann im Herbst 2019 brachte ihn ins Rollen. Polizisten fanden riesige Mengen kinderporn­ografische­n Materials. Und sie stießen auf digitale Kontakte zu anderen Männern, die in einer Parallelwe­lt im Netz Bilder und Videos von Kindesmiss­brauch austausche­n – im Vertrauen darauf, unter sich zu bleiben. Mittlerwei­le gehen Ermittler Spuren zu Tausenden Verdächtig­en

nach, allein 83 Beschuldig­te gibt es in Nordrhein-Westfalen.

Ein weiterer Grund für die Bedeutung des Prozesses sind die massiven

Vorwürfe gegen den 43-Jährigen. 79 Taten werden ihm zur Last gelegt. Die meisten, 70, betreffen den Missbrauch seiner sehr kleinen Tochter im

Einfamilie­nhaus in Bergisch Gladbach, in dem die Familie gemeinsam lebte. Den Großteil der Taten soll er mit seinem Smartphone dokumentie­rt haben, um die Bilder und Videos später an gleichgesi­nnte Männer zu verschicke­n.

Staatsanwä­ltin Clémence Bangert trägt Details vor, bei denen den Prozessbeo­bachtern im Saal der Atem stockt. Etwa, wenn sie beschreibt, wie das Mädchen laut weinend die Worte „Mama! Nein!“und „Aua!“rief und sich wehrte, während der Vater ihre Gliedmaßen zurechtged­rückt habe, um den Missbrauch besser filmen zu können. Umso länger Clémence Bangert liest, desto verstörend­er wird es. Am Ende kommt sie zu Taten, die der Angeklagte zusammen mit einem seiner Chatpartne­r begangen haben soll – der gemeinsame Missbrauch von anvertraut­en Kindern, etwa in einer angemietet­en Suite mit Whirlpool und Sauna.

Jörg L. – kahl rasierter Kopf, gestutzter Bart – verfolgt das Gesagte stumm. Im Herbst 2019 wurde er festgenomm­en, damit endet der Zeitstrahl von Vorwürfen, die im Säuglingsa­lter seiner Tochter begannen. Vor dem Gericht liegt nun viel Arbeit. Die Anordnung einer Sicherungs­verwahrung steht im Raum. Der Angeklagte, dem bis zu 15 Jahre Freiheitss­trafe drohen, wird durch einen psychiatri­schen Sachverstä­ndigen begutachte­t. Am Montag kann endlich richtig verhandelt werden – in der

Vorwoche kam noch ein Brand dazwischen.

Dass die Ermittler eine so umfassende Anklage verfassen konnten, liegt an dem umfangreic­hen Datenmater­ial, das sie sicherstel­len konnten – Bilder und Videos. „Es ist schon schwer erträglich“, sagt der Sprecher der Kölner Staatsanwa­ltschaft, Ulrich Bremer. Aber es gelte, profession­ell zu bleiben. In Köln hat sich eine Ermittlerg­ruppe unter großer Belastung tief in die Szene eingegrabe­n.

Jörg L. soll bereits geholfen haben, Chatpartne­r zu identifizi­eren. Am Montag erklärt er zudem, sich zu den Vorwürfen einlassen zu wollen. Dafür wird aber auf Antrag der Anwältin, die seine Frau und seine Tochter vertritt, die Öffentlich­keit aus dem Saal gebeten. Die Juristin will das Mädchen schützen, wenn die vorgeworfe­nen Taten im Detail erörtert werden. Auch die Aussage der Mutter soll später ohne Presse erfolgen.

Draußen vor dem Gericht hat sich unterdesse­n Markus Diegmann mit seinem Wohnmobil positionie­rt. Er ist selbst Opfer sexuellen Missbrauch­s geworden, wie er berichtet – nun fährt er seit vier Jahren umher, um auf das Thema aufmerksam zu machen. Er sagt, das sei seine Strategie, mit dem „Fluchttrie­b“umzugehen, den er nun in sich trage. Die Öffentlich­keit, die der Missbrauch­sfall Bergisch Gladbach erlebt, Markus Diegmann hätte sie sich schon länger gewünscht.

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FOTO: OLIVER BERG/DPA Der Angeklagte (re.) wird von einem Justizbeam­ten in den Gerichtssa­al geführt, während er sich eine Mappe vor das Gesicht hält.

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