Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Empörung und Empathie

James Dean Bradfield (Manic Street Preachers) besingt den chilenisch­en Volksheld Victor Jara

- Von Werner Herpell

BERLIN (dpa) - Politische Popmusik – das ist sehr dünnes Eis. Wie man so etwas ohne Fehltritt hinbekomme­n kann, zeigt jetzt James Dean Bradfield. Der Frontmann der BritrockBa­nd Manic Street Preachers verneigt sich vor einer Symbolfigu­r der Linken.

Die Folterknec­hte brachen Víctor Jara beide Hände, damit der populäre Musiker nicht mehr Gitarre spielen konnte. Wenig später erschossen sie den sanften Sozialiste­n im „Estadio Chile“, das dem putschende­n Pinochet-Militär 1973 als Gefängnis für Anhänger des demokratis­ch gewählten Präsidente­n Salvador Allende diente. Heute trägt der Sporttempe­l den Namen des längst weltberühm­ten Folksänger­s, Dichters und Theaterreg­isseurs – seit dem 30. Jahrestag dieses politische­n Mordes heißt er „Estadio Víctor Jara“.

Die Geschichte des chilenisch­en Künstler-Aktivisten, der unter so grausigen Umständen starb, hat James Dean Bradfield schon lange fasziniert. Und wer könnte besser eine Art Rock-Oper über Víctor Jara (1932-1973) komponiere­n als dieser aufrechte linke Sänger und Gitarrist aus Wales, der als Frontmann der Manic Street Preachers schon seit den 1990er-Jahren gegen Ungerechti­gkeiten aller Art, gegen Menschenre­chtsverlet­zungen und faschistis­che Tendenzen antritt.

Mit seinem zweiten Soloalbum „Even in Exile“legt Bradfield ein Cinemascop­e-Werk vor, dessen Empörung und Empathie den Atem rauben. Die Musik ist aber nicht nur hochemotio­nal, sondern auch enorm abwechslun­gsreich. Man mag kaum glauben, dass der 51-Jährige all diese Klangbilde­r zwischen treibendem Gitarrenro­ck, orchestral­er Opulenz (etwa im wunderschö­nen Instrument­al „Under The Mimosa Tree“), düsterer Elektronik und südamerika­nischen Folklore-Anleihen weitgehend allein eingespiel­t hat.

Die Platte umfasst zehn BradfieldK­omposition­en und eine Coverversi­on von Jaras „La Partida“. Die ergreifend­en Texte stammen ebenfalls von einem, der etwas davon versteht:

Patrick Jones ist ein angesehene­r walisische­r Theateraut­or – und Bruder von Nicky Wire, dem Bassisten und Songschrei­ber der Manic Street Preachers. Es geht episodenha­ft um Jaras nur knapp 41 Jahre dauerndes Leben, die Liebe zu seiner britisch-chilenisch­en Frau Joan („Without Knowing

The End (Joan’s Song)“), seinen Tod („The Last Song“) und eine bis heute reichende Volkshelde­n-Legende.

„Irgendwann Anfang 2019 gab mir Patrick eine Handvoll Gedichte, die jeweils verschiede­ne Aspekte von Víctor Jaras Leben berührten“, erzählt Bradfield. „Als ich sie las, war ich von der Idee beeindruck­t, dass, wenn ein Leben etwas bedeutet, es auch nach dem Tod weitergeht. Dieser Gedanke blieb in mir haften und brachte mich dazu, Patricks Worte in eine Platte zu verwandeln.“

Bradfield wäre aber nicht Bradfield, wenn er es bei einer schlichten biografisc­hen Nacherzähl­ung belassen hätte. Er schlägt den Bogen von 1973 in die Gegenwart. Denn auch jetzt wieder begegneten die Mächtigen überall opposition­ellen Bestrebung­en mit „einem völligen Mangel an Empathie, Kompromiss­en oder Respekt“, meint der Musiker. Und er fügt hinzu: „Ende 2019 (…) versammelt­en sich die Menschen auf der Plaza Italia in Santiago und sangen Jaras Lieder bei einem Massenprot­est gegen die Regierung. Seine Stimme ist ein Echo.“

In einem Interview des britischen „Guardian“fasst Bradfield seine jahrzehnte­lange Wertschätz­ung für die Musik des Chilenen so zusammen: „Jara zeigt uns, dass Protestmus­ik auch wie ein Psalm oder ein Gebet sein kann, um eine umfänglich­ere Wirkung zu erzielen – damit man die Geschichte ein bisschen besser versteht. Das passt auch für die heutige Zeit.“

Bradfield ist mit „Even in Exile“ein meisterlic­hes Polit-Rock-Album geglückt. Der Sänger knüpft hier an die besten Platten seiner Band an, bei „Everything Must Go“(1996), dem Hit „This Is My Truth Tell Me Yours“(1998) oder dem an David Bowie erinnernde­n „Futurology“(2014). Eine nicht zu unterschät­zende Leistung in einem Sub-Genre, das – nach dem Motto „Gut gemeint, schlecht gemacht“– viele Fußangeln für pathetisch­es Scheitern bereithält. Unter anderem wohl deshalb ernannte das Musikfachm­agazin „Rolling Stone“(August) „Even in Exile“zu seinem Album des Monats.

 ?? FOTO: DELWARE LIMITED/DPA ?? Episodenha­ft befasst sich der britische Musiker James Dean Bradfield mit dem Leben des chilenisch­en Volkshelde­n Víctor Jara.
FOTO: DELWARE LIMITED/DPA Episodenha­ft befasst sich der britische Musiker James Dean Bradfield mit dem Leben des chilenisch­en Volkshelde­n Víctor Jara.
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany