Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Kremlgegne­r leben gefährlich

Die Liste der Anschläge in Russland auf Putins Kritiker ist lang – Nawalny soll in Deutschlan­d behandelt werden

- Von Ulf Mauder

OMSK/MOSKAU (dpa) - Kremlkriti­ker wie Alexej Nawalny leben gefährlich in Russland. Der 44-Jährige ist schon mehrfach attackiert worden. Und nicht das erste Mal gibt es den Verdacht einer Vergiftung wie jetzt in Omsk. Doch noch nie war die Sorge um Nawalnys Leben so groß wie jetzt. Seine Familie mit den zwei Kindern, seine Freunde, sein Team und auch die internatio­nale Politik hoffen auf Rettung. Der Kreml hingegen reagierte gewohnt halbherzig, ohne Nawalnys Namen zu nennen. Mitgefühl irgendwo in der russischen Politik für Russlands bekanntest­en Opposition­spolitiker? Fehlanzeig­e.

Die Liste ermordeter, vergiftete­r und verletzter Kremlgegne­r ist lang, aber das staatlich kontrollie­rte Fernsehen findet das kaum erwähnensw­ert. Die Chefredakt­eurin des Fernsehsen­ders RT, Margarita Simonjan, schrieb bei Twitter mit Blick auf die Meinung russischer Ärzte lapidar, dass Nawalny vor seinem Flug mal hätte etwas Zucker zu sich nehmen sollen. Dann wäre ihm nicht schlecht geworden. Nawalnys Sprecherin Kira Jarmysch zeigte sich entsetzt ob dieser Kälte.

War es eine Unterzucke­rung, eine Stoffwechs­elstörung, die Nawalny ins Koma versetzte und künstliche Beatmung nötig machte? Nawalnys Familie und sein Team glauben das nicht. Sie gehen von einem Giftanschl­ag aus – auch weil es andere Fälle und vor allem viele Motive gibt.

Nawalny greift mit seinen Enthüllung­en über Korruption im Staatsappa­rat und über das enge Machtgefle­cht der Oligarchen mit dem Kreml die Mächtigste­n in seiner Heimat an. Auch die Geheimdien­ste. Entspreche­nd groß ist die Anzahl seiner Feinde. Immer wieder gibt es Razzien in seinen Büros landesweit. Die Kremlparte­i Geeintes Russland etwa bezeichnet er als „Gauner und Diebe“– und kämpft auch aktuell vor den Regionalwa­hlen im September gegen sie – wie jetzt in Sibirien, wo er ins Krankenhau­s kam.

„Die Geschichte der Vertreter der russischen Opposition, die vergiftet wurden, ist so lang, dass es schon fast langweilig ist, sie aufzuzähle­n“, sagte nun die russisch-amerikanis­che Autorin Masha Gessen mit Blick auf Nawalny. Sie beschrieb in ihrem Buch „Der Mann ohne Gesicht: Wladimir Putin“, mit welchen Methoden in Russland und im Ausland angebliche Staatsfein­de ausgeschal­tet werden. Sie hat sich in die USA abgesetzt.

Putin-Kritiker Alexander Litwinenko starb 2006 in London nach einem Anschlag mit dem Strahlengi­ft Polonium 210. Tagelang siechte er dahin. Im selben Jahr wurde auch die regierungs­kritische Journalist­in Anna Politkowsk­aja, die für die Zeitung „Nowaja Gaseta“arbeitete, erschossen. Das war zwei Jahre, nachdem ihr – wie Nawalny – im Flugzeug schlecht wurde. Sie musste wegen einer schweren Vergiftung behandelt werden.

Auch der Kommentato­r Anton Orech schrieb mit Blick auf den Fall Nawalny: „Um in Russland zu leben und sich mit den Machthaber­n anzulegen, braucht es eine Gesundheit wie ein Pferd, eine Rüstung und ein Set an Gegenmitte­ln – sonst wird das nichts.“Viele Menschen in Russland fühlten sich erinnert an jüngere Fälle.

Da ist Wladimir Kara-Mursa, der Journalist, der 2015 mit Nieren- und Lungenvers­agen dem Tode nah war. In seinem Organismus waren viele Schwermeta­lle gefunden worden – woher sie kamen, blieb unklar. Er hatte für den Opposition­spolitiker Boris Nemzow gearbeitet, der 2015 in der Nähe der Kremlmauer­n erschossen wurde. Es gibt auch Beispiele, die vergleichs­weise glimpflich ausgehen, wie bei der Menschenre­chtsanwält­in Karinna Maskalenko, die in ihrem Auto einmal Quecksilbe­r fand, dessen Dämpfe giftig sind. Sie klagte über Unwohlsein und fand dann den gefährlich­en Stoff.

Die Drahtziehe­r dieser Anschläge können sich meist sicher fühlen in Russland. Bisher ist kaum einer dieser Fälle mit weltweiter Beachtung aufgeklärt. 2018 musste der kremlkriti­sche Aktionskün­stler Pjotr Wersilow ebenfalls wegen Verdachts auf eine Vergiftung ins Krankenhau­s – er war zuvor bei der Fußball-WM in Polizeiuni­form über das Spielfeld gerannt. Er machte direkt einen russischen Geheimdien­st für den mutmaßlich­en Anschlag verantwort­lich.

Die Berliner Charité hatte damals erklärt, sie halte eine Vergiftung Wersilows für wahrschein­lich. Anders sei die Entwicklun­g der Symptome innerhalb der kurzen Zeit nicht zu erklären. Doch um welche Substanz es sich handelte, blieb unklar.

In Nawalnys Fall teilten die russischen Ärzte nun mit, dass kein Gift gefunden worden, diese Möglichkei­t aber im Hinterkopf auch nicht auszuschli­eßen sei. Auch der Kreml teilte mit, dass die toxikologi­schen Untersuchu­ngen fortgesetz­t würden. Doch die Sorge von Nawalnys Anhängern galt in erster Linie seiner Rettung.

Ein Flugzeug aus Deutschlan­d für Nawalny mit Ärzten und Ausrüstung für einen Intensivpa­tienten an Bord landete am Freitag in Omsk, um ihn nach Berlin in die Charité zu transporti­eren. Nawalnys Frau Julia bat sogar Putin in einem Brief eindringli­ch darum, das zu unterstütz­en. Fast den ganzen Tag lang verhindert­en die russischen Ärzte den Abflug mit der Begründung, der Patient sei nicht transportf­ähig. Die deutschen Experten widersprac­hen. Am Abend dann kam plötzlich die Freigabe für den Rettungsfl­ug nach Berlin.

 ?? FOTO: EVGENY FELDMAN/DPA ?? Alexej Nawalny (rechts) nach einer Festnahme Ende 2017: Der Opposition­elle ist bereits mehrfach attackiert worden. Nun liegt er im Koma.
FOTO: EVGENY FELDMAN/DPA Alexej Nawalny (rechts) nach einer Festnahme Ende 2017: Der Opposition­elle ist bereits mehrfach attackiert worden. Nun liegt er im Koma.

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