Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Riesen-Bundestag wird in letzter Minute Chefsache
Koalitionsausschuss soll Parlament verkleinern – Reduzierung könnte Wahlkreise im Südwesten betreffen
BERLIN - Jahrelang versandeten Versuche, das Wachstum des Bundestags zu stoppen. Keine 13 Monate vor der nächsten Bundestagswahl wird das Thema nun zur Chefsache: Der Koalitionsausschuss von Union und SPD (mit Kanzlerin, Partei- und Fraktionsspitzen) soll am Dienstag eine Wahlrechtsreform auf den Weg bringen. Ziel: Ein weiteres Anwachsen des weltweit zweitgrößten Parlaments von derzeit 709 Abgeordneten auf mehr als 800 zu vermeiden – die Regelgröße liegt bei 598.
Grund für die Vergrößerung: Gewinnt eine Partei in den 299 Wahlkreisen mit der Erststimme mehr Direktmandate, als ihr laut Zweitstimme zusteht, entstehen Überhangund Ausgleichsmandate. Der Bundestag wächst. Und so braucht der Berliner Parlamentsbetrieb von Legislatur zu Legislatur mehr Räume, Mitarbeiter und Geld. Geht das so weiter, braucht der Bundestag im kommenden Jahr noch mehr Büros und würde seine laufenden Kosten weit über die Milliardengrenze schieben, fürchten Kritiker. Dass eine coronagebeutelte Bevölkerung wenig Verständnis für Neubauten und Zusatzausgaben für den Politbetrieb haben dürfte, treibt die Mandatsträger um. Gleichzeitig könnten Wackelkandidaten im Parlament bei Zustimmung zur Verkleinerung ihren eigenen Job in Gefahr bringen.
Am Montag rief Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble die Regierungsparteien zur Kompromissbereitschaft auf: „Die Änderung des Wahlrechts ist noch möglich, und sie ist überfällig“, sagte der CDU-Politiker, dessen eigenen Vorstöße in den vergangenen Jahren ebenso erfolglos waren wie die seines Vorgängers Norbert Lammert.
Greifbares gibt es bisher wenig: Nur ein gemeinsamer Vorschlag von Grünen, FDP und Linkspartei hat es bisher bis in den Bundestag gebracht. Doch dort ließ die Koalition ihn abblitzen.
Nach langem Hin und Her liegen nun regierungsseitig zwei Vorschläge auf dem Tisch: Die SPD will die Parlamentarierzahl als „Übergangslösung“bei der Wahl 2021 auf 690 deckeln. Und zwar auch auf Kosten von Direktkandidaten, die ihren Wahlkreis nur knapp gegen ihre Mitbewerber gewinnen. Die Union lehnt das kategorisch ab. Wer im direkten Wettstreit gegen die Kontrahenten gewinnt, dürfe nicht durch Rechnereien um den Wahlsieg gebracht werden, heißt es in der Union.
Stattdessen wollen CDU und CSU die Zahl der Wahlkreise insgesamt um 19 auf 280 verkleinern und künftig nicht mehr alle Überhangmandate ausgleichen.
Die Reduktion der Wahlkreise gilt als heikel, da dies einen Neuzuschnitt vieler Gebiete zur Folge hätte und viele Kandidaten bereits in den alten Grenzen aufgestellt sind. Diese müssten dann vor den neuen Gebietskulissen neu bestimmt werden.
Setzt sich der Vorschlag durch, könnte auch der Südwesten von dem Neuzuschnitt betroffen sein. Denn bereits bei der Wahl 2017 unterschritten vier Wahlkreise in BadenWürttemberg nach einer Auswertung der Technischen Hochschule Aachen deutlich die Durchschnittsgröße von etwa einer Viertelmillion deutschen Bewohnern pro Wahlkreis: Biberach, Bodensee, Schwarzwald-Baar und Esslingen. Und auch die angrenzenden Wahlkreise Ravensburg, Zollernalb-Sigmaringen und Rottweil-Tuttlingen sind bevölkerungsärmer als der Bundesschnitt.
Das führt zu Missverhältnissen: Während Biberach nur etwas über 200 000 Bewohner zählte, waren es bei den angrenzenden bayerischen Wahlkreisen Neu-Ulm und Ostallgäu sogar jeweils knapp 300 000. Zu große Abweichungen vom Durchschnitt sollen aber vermieden werden. Setzt sich die Union am Dienstag mit der Wahlkreisreduktion durch, würden in Baden-Württemberg
zwei Wahlkreise wegfallen. Gut möglich, dass es dabei zur Neuordnung der zu kleinen Wahlkreise zwischen Bodensee, Ulm und Schwarzwald kommt. Noch ist es zwar nicht so weit, doch in den Innenministerien in Berlin und Stuttgart wird bereits über neuen Wahlkreiszuschnitten gebrütet. Denn wenn es zu einer Einigung kommt, muss es nach dem jahrelangen Stillstand nun schnell gehen. Denn als Faustregel gilt, dass das Wahlrecht spätestens ein Jahr vor dem eigentlichen Urnengang feststehen sollte.
Doch dass es zu einer Einigung kommt, ist nicht ausgemacht. Derzeit lehnen die Koalitionspartner den Vorschlag der jeweiligen Gegenseite nämlich ab. Die Parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen, Britta Haßelmann, ist entsprechend genervt. Seit Monaten fordert die Politikerin gebetsmühlenartig eine Einigung. „Während uns für eine Reform die Zeit davonläuft, haben Union und SPD nichts Besseres zu tun als per Zeitungsinterviews weiterhin auf ihre eigenen Positionen zu beharren“, erklärt die Oppositionspolitikerin. Dabei seien „einzig Union und SPD für die Blockade verantwortlich“, ergänzt sie.
Gut möglich, dass genau diese Parteien am Dienstag diese Blockade auch beenden.