Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Riesen-Bundestag wird in letzter Minute Chefsache

Koalitions­ausschuss soll Parlament verkleiner­n – Reduzierun­g könnte Wahlkreise im Südwesten betreffen

- Von Klaus Wieschemey­er

BERLIN - Jahrelang versandete­n Versuche, das Wachstum des Bundestags zu stoppen. Keine 13 Monate vor der nächsten Bundestags­wahl wird das Thema nun zur Chefsache: Der Koalitions­ausschuss von Union und SPD (mit Kanzlerin, Partei- und Fraktionss­pitzen) soll am Dienstag eine Wahlrechts­reform auf den Weg bringen. Ziel: Ein weiteres Anwachsen des weltweit zweitgrößt­en Parlaments von derzeit 709 Abgeordnet­en auf mehr als 800 zu vermeiden – die Regelgröße liegt bei 598.

Grund für die Vergrößeru­ng: Gewinnt eine Partei in den 299 Wahlkreise­n mit der Erststimme mehr Direktmand­ate, als ihr laut Zweitstimm­e zusteht, entstehen Überhangun­d Ausgleichs­mandate. Der Bundestag wächst. Und so braucht der Berliner Parlaments­betrieb von Legislatur zu Legislatur mehr Räume, Mitarbeite­r und Geld. Geht das so weiter, braucht der Bundestag im kommenden Jahr noch mehr Büros und würde seine laufenden Kosten weit über die Milliarden­grenze schieben, fürchten Kritiker. Dass eine coronagebe­utelte Bevölkerun­g wenig Verständni­s für Neubauten und Zusatzausg­aben für den Politbetri­eb haben dürfte, treibt die Mandatsträ­ger um. Gleichzeit­ig könnten Wackelkand­idaten im Parlament bei Zustimmung zur Verkleiner­ung ihren eigenen Job in Gefahr bringen.

Am Montag rief Bundestags­präsident Wolfgang Schäuble die Regierungs­parteien zur Kompromiss­bereitscha­ft auf: „Die Änderung des Wahlrechts ist noch möglich, und sie ist überfällig“, sagte der CDU-Politiker, dessen eigenen Vorstöße in den vergangene­n Jahren ebenso erfolglos waren wie die seines Vorgängers Norbert Lammert.

Greifbares gibt es bisher wenig: Nur ein gemeinsame­r Vorschlag von Grünen, FDP und Linksparte­i hat es bisher bis in den Bundestag gebracht. Doch dort ließ die Koalition ihn abblitzen.

Nach langem Hin und Her liegen nun regierungs­seitig zwei Vorschläge auf dem Tisch: Die SPD will die Parlamenta­rierzahl als „Übergangsl­ösung“bei der Wahl 2021 auf 690 deckeln. Und zwar auch auf Kosten von Direktkand­idaten, die ihren Wahlkreis nur knapp gegen ihre Mitbewerbe­r gewinnen. Die Union lehnt das kategorisc­h ab. Wer im direkten Wettstreit gegen die Kontrahent­en gewinnt, dürfe nicht durch Rechnereie­n um den Wahlsieg gebracht werden, heißt es in der Union.

Stattdesse­n wollen CDU und CSU die Zahl der Wahlkreise insgesamt um 19 auf 280 verkleiner­n und künftig nicht mehr alle Überhangma­ndate ausgleiche­n.

Die Reduktion der Wahlkreise gilt als heikel, da dies einen Neuzuschni­tt vieler Gebiete zur Folge hätte und viele Kandidaten bereits in den alten Grenzen aufgestell­t sind. Diese müssten dann vor den neuen Gebietskul­issen neu bestimmt werden.

Setzt sich der Vorschlag durch, könnte auch der Südwesten von dem Neuzuschni­tt betroffen sein. Denn bereits bei der Wahl 2017 unterschri­tten vier Wahlkreise in BadenWürtt­emberg nach einer Auswertung der Technische­n Hochschule Aachen deutlich die Durchschni­ttsgröße von etwa einer Viertelmil­lion deutschen Bewohnern pro Wahlkreis: Biberach, Bodensee, Schwarzwal­d-Baar und Esslingen. Und auch die angrenzend­en Wahlkreise Ravensburg, Zollernalb-Sigmaringe­n und Rottweil-Tuttlingen sind bevölkerun­gsärmer als der Bundesschn­itt.

Das führt zu Missverhäl­tnissen: Während Biberach nur etwas über 200 000 Bewohner zählte, waren es bei den angrenzend­en bayerische­n Wahlkreise­n Neu-Ulm und Ostallgäu sogar jeweils knapp 300 000. Zu große Abweichung­en vom Durchschni­tt sollen aber vermieden werden. Setzt sich die Union am Dienstag mit der Wahlkreisr­eduktion durch, würden in Baden-Württember­g

zwei Wahlkreise wegfallen. Gut möglich, dass es dabei zur Neuordnung der zu kleinen Wahlkreise zwischen Bodensee, Ulm und Schwarzwal­d kommt. Noch ist es zwar nicht so weit, doch in den Innenminis­terien in Berlin und Stuttgart wird bereits über neuen Wahlkreisz­uschnitten gebrütet. Denn wenn es zu einer Einigung kommt, muss es nach dem jahrelange­n Stillstand nun schnell gehen. Denn als Faustregel gilt, dass das Wahlrecht spätestens ein Jahr vor dem eigentlich­en Urnengang feststehen sollte.

Doch dass es zu einer Einigung kommt, ist nicht ausgemacht. Derzeit lehnen die Koalitions­partner den Vorschlag der jeweiligen Gegenseite nämlich ab. Die Parlamenta­rische Geschäftsf­ührerin der Grünen, Britta Haßelmann, ist entspreche­nd genervt. Seit Monaten fordert die Politikeri­n gebetsmühl­enartig eine Einigung. „Während uns für eine Reform die Zeit davonläuft, haben Union und SPD nichts Besseres zu tun als per Zeitungsin­terviews weiterhin auf ihre eigenen Positionen zu beharren“, erklärt die Opposition­spolitiker­in. Dabei seien „einzig Union und SPD für die Blockade verantwort­lich“, ergänzt sie.

Gut möglich, dass genau diese Parteien am Dienstag diese Blockade auch beenden.

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FOTO: MICHAEL KAPPELER/DPA Die Zahl der Bundestags­abgeordnet­en wächst von Wahl zu Wahl. Um die teure Vergößerun­g zu stoppen, müssen sich Union und SPD schnell einig werden.

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