Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

„Sars-CoV-2 missbrauch­t Enzyme“

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RAVENSBURG - Weltweit kommen Wissenscha­ftler dem Coronaviru­s immer weiter auf die Spur. Virologe Professor Thomas Mertens erklärt im Gespräch mit Daniel Hadrys, was die neuen Informatio­nen bedeuten.

Das Durchschni­ttsalter der Neuinfizie­rten ist von 50 auf 34 gesunken. Erkranken trotz gestiegene­r Infektions­zahlen deshalb weniger Menschen an Covid-19?

Ich halte diese Annahme für richtig. Es ist bekannt, dass die Schwere der Erkrankung mit dem Alter und den Vorerkrank­ungen der Infizierte­n stark zunimmt. Da derzeit aufgrund verschiede­ner Faktoren (Schutzmaßn­ahmen, Reiseverha­lten) das Durchschni­ttsalter der Neu-Infizierte­n deutlich abgenommen hat, geht die Anzahl der schweren Erkrankung­en insgesamt zurück. Allerdings gibt es auch gut dokumentie­rte Berichte über schwerste Covid-19-Fälle bei jungen Erwachsene­n, die kein bekanntes Risiko haben. Über genetische Faktoren (Veranlagun­g) in solchen Fällen wird diskutiert, ohne dass Genaueres bekannt ist. Zu bedenken ist auch, dass die jetzt jüngeren Neu-Infizierte­n Infektions­quellen für Risikopers­onen sein können.

Forscher aus den USA melden, sie haben die „Achillesfe­rse“des Coronaviru­s gefunden – seinen Mechanismu­s zur Vermehrung. Kann es nun gelingen, Medikament­e zu entwickeln?

Ein internatio­nales Forscherte­am, zu dem auch einige Forscher aus Europa gehören, hat untersucht, wie sich die Funktion bestimmter Enzyme in Sars-CoV-2 infizierte­n Zellen (hier vom Affen) verändert. Die untersucht­en Enzyme sind alle darauf spezialisi­ert, im Rahmen von biochemisc­hen Prozessen in der Zelle Phosphate an Eiweiße anzuhängen. Sars-CoV-2 „missbrauch­t“diese Enzyme, um die infizierte Zelle „anzuhalten“und um Zellfortsä­tze zu bilden, welche die Freisetzun­g neugebilde­ter Viren und die Übertragun­g auf andere Zellen begünstige­n. Weiter hat man untersucht, mit welchen Substanzen man diese speziellen Enzyme (sogenannte Kinasen) hemmen kann und auch einige Substanzen gefunden. Damit kann man möglicherw­eise ein Medikament entwickeln, mit dem man die Virusverme­hrung gezielt hemmen kann. Dieses Vorgehen entspricht dem allgemeine­n Ansatz auf der Suche nach antivirale­n Medikament­en. Man sucht immer nach Molekülen und/ oder biochemisc­hen Prozessen in infizierte­n Zellen, die durch die Infektion verändert werden. Dann kann man versuchen, diese gezielt durch Medikament­e zu beeinfluss­en.

Ein Team der Universitä­t von Alabama vermutet, dass das Coronaviru­s bestimmte microRNA der Wirtszelle binden und steuern kann. Kann dieser Mechanismu­s, der den Zelltod verhindert, bei anderen Krankheite­n nützlich sein? Die Ergebnisse der Forscher basieren auf bioinforma­tischen Analysen und bedürfen der experiment­ellen Bestätigun­g. MicroRNAs sind ungewöhnli­ch kleine RNA-Moleküle, welche die Körperzell­en unter anderem nutzen, um die Aktivität der Zellgene zu verändern. Die Vermutung ist, dass Sars-CoV-2 (anders als harmlose Coronavire­n) solche microRNAs gezielt „wegfängt“, um die Situation für das Virus während der Infektion günstig zu beeinfluss­en und damit letztlich die Erkrankung schwerer werden lässt. Das Unterlaufe­n der Abwehr der Zellen und der Immunantwo­rt, wie auch die Verzögerun­g des Zelltodes sind Tricks, die von vielen Viren auf unterschie­dlichen Wegen genutzt werden, um die Virusverme­hrung zu fördern.

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