Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Tiefes Loch im Staatshaushalt
Corona hat die Kassen geleert, das Bruttoinlandsprodukt ist geschrumpft– Volkswirte sehen die Unternehmen aber schon wieder auf Erholungskurs
FRANKFURT - Die Krise reißt ein tiefes Loch in die deutschen Staatskassen. So beträgt das Defizit allein im ersten Halbjahr 51,6 Milliarden Euro. Um diesen Betrag also übersteigen die Ausgaben von Bund, Ländern, Gemeinden und Sozialversicherungen deren Einnahmen. Das hat das Statistische Bundesamt in Wiesbaden in einer ersten Schätzung am Dienstag bekannt gegeben. Damit beträgt das Staatsdefizit in den ersten sechs Monaten des Jahres 3,2 Prozent – und liegt jenseits der in den Maastricht-Verträgen eigentlich festgelegten Grenze von drei Prozent für die Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Allerdings hatte die EU infolge der Krise die sonst geltenden Defizitregeln außer Kraft gesetzt.
Denn um schlimmere ökonomische Auswirkungen durch die Pandemie zu verhindern, haben die Regierungen in Europa allenthalben Unternehmen und Bürgerinnen und Bürger mit milliardenschweren Hilfspaketen und Konjunkturprogrammen unterstützt. Hierzulande zählen dazu die Akuthilfen für Selbstständige und Kleinstunternehmen, garantierte Kredite der staatlichen Förderbank KfW für Unternehmen aller Größen oder auch die Senkung der Mehrwertsteuer um drei Prozent bis Jahresende.
Trotzdem sind die wirtschaftlichen Auswirkungen des Lockdowns und der Vorsichtsmaßnahmen im Zuge der Pandemie verheerend: Um 9,7 Prozent ist das Bruttoinlandsprodukt im zweiten Quartal gegenüber Jahresbeginn geschrumpft. Es ist der stärkste Rückgang in einem Quartal seit Beginn der volkswirtschaftlichen Rechnungen des statistischen Bundesamtes 1970. Immerhin aber fällt der Rückgang damit um 0,4 Prozent geringer aus als in einer ersten Schätzung von Juli.
Die vergleichsweise deutliche Korrektur oder Verbesserung um 0,4 Prozent ist vor allem der Tatsache geschuldet, dass der Zeitpunkt der ersten Schätzung 15 Tage früher als sonst stattfand. Mit den Daten zum zweiten Quartal nämlich haben die Statistiker den Veröffentlichungstermin für ihre erste Prognose vorgezogen – von 45 auf 30 Tage nach Ende des Quartals. Dafür nehmen sie naturgemäß einen höheren Anteil an Schätzungen und Prognosen in Kauf – und damit potenziell auch größere Abweichungen von den tatsächlichen realen Daten. Schnell verfügbare Daten seien gerade in Krisenzeiten als Grundlage für politische Entscheidungen erforderlich. „Der Bedarf an aktuellen Indikatoren für die Konjunkturbeobachtung
ist gerade jetzt besonders hoch“, sagte Albert Braakmann, Leiter der Abteilung Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen im statistischen Bundesamt in Wiesbaden. „Dieser Verantwortung sind wir uns bewusst und wir haben uns entschieden, ihr auch nachzukommen“. Eine Korrektur um 0,4 Prozent übrigens ist in Krisenzeiten nichts Neues. In der letzten großen Finanzkrise 2008/2009 lagen die Abweichungen zwischen der ersten Schnellschätzung und den tatsächlichen Daten ebenfalls ziemlich genau in diesem Bereich.
Jedenfalls waren die Rückgänge in der Wirtschaftsleistung hierzulande besonders massiv in der Exportindustrie. Die Ausfuhren gingen gegenüber dem Vorquartal um über 20 Prozent (20,3) zurück. Auch die Ausrüstungsinvestitionen – also die Neuanschaffung von Maschinen, Geräten und Fahrzeugen – erlitten einen Einbruch um knapp 20 Prozent (19,6). Vergleicht man das mit dem Vorjahresquartal, liegt der Rückgang sogar bei knapp 28 Prozent. (27,9). Auch der Konsum, der in Zeiten konjunkturellen Gegenwindes die wirtschaftliche
Aktivität stützen kann, brach um knapp elf Prozent (10,9) ein.
Einen kleinen Lichtblick dagegen bietet der Arbeitsmarkt. Dank dem massiven und flächendeckenden Einsatz von Kurzarbeit hat sich die Zahl der Beschäftigten lediglich um 1,3 Prozent verringert. Dass die Kurzarbeit „extrem" zunahm, wie die Statistiker erklärten, lässt sich anhand der Zahl der durchschnittlich geleisteten Arbeitsstunden je Erwerbstätigen zeigen: Das Gesamtvolumen der geleisteten Arbeitsstunden aller Erwerbstätigen
ging um zehn Prozent zurück. „Das einzig Gute an all diesen Daten ist, dass sie einen letzten Blick in den Rückspiegel gewähren“, sagte der Chefvolkswirt der ING, Carsten Brzeski. „Mit Blick auf die Zukunft braucht es keinen Raketenwissenschaftler, um vorherzusagen, dass die Wirtschaft im dritten Quartal eines der besten Ergebnisse aller Zeiten erzielen wird“.
Das deckt sich mit der Stimmung in den Chefetagen der deutschen Wirtschaft. So ist der Ifo-Geschäftsklimaindex
für August von 90,4 auf 92,6 Punkte geklettert – es ist dies bereits der vierte Anstieg in Folge. „Die deutsche Wirtschaft ist auf Erholungskurs“, kommentierte Ifo-Präsident Clemens Fuest das Ergebnis der Befragung von 7000 Unternehmen in Deutschland. Die meisten der befragten Manager schätzen sowohl ihre aktuelle Lage als auch die Erwartungen für die kommenden sechs Monate positiver ein als vorher.
Das mag auch daran liegen, dass sich die globale Konjunktur langsam wieder von ihren Tiefpunkten der vergangenen Monate erholt. China spielt hier eine wichtige Rolle als globale Konjunkturlokomotive. Für deutsche Unternehmen ist China einer der wichtigsten Exportmärkte. Auch das Essener Wirtschaftsforschungsinstitut RWI sieht Anzeichen für eine kräftige Erholung des Welthandels. Der Containerumschlag in den Seehäfen nähere sich dem vor der Corona-Krise erreichten Niveau an, teilte das RWI am Dienstag mit. Gerade in den chinesischen Häfen sei er auf ein Allzeithoch gestiegen. Aber auch außerhalb Chinas habe sich der Umschlag kräftig erhöht.