Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Ein neues Kapitel in der Geschichte der Goldgasse 3
Wilhelm Kuhn saniert das Gebäude, das seine Familie seit 1893 bewohnt – Einst Ort des Zitronenhandels
RAVENSBURG - Wilhelm Kuhn und die Goldgasse 3, sie gehören zusammen: Kuhn ist dort aufgewachsen, wie schon sein Vater und Großvater. Der Urgroßvater hatte das Haus vor 127 Jahren gekauft. Alle Kuhns waren Drucker. Doch Wilhelm Kuhn ist nach etlichen Technologiesprüngen, die ihn Geld und Nerven gekostet haben, aus dem Geschäft ausgestiegen und aufgrund seiner Leidenschaft für die italienische Region Piemont unter die Feinkosthändler und Gastronomen gegangen. Sein Haus will er jetzt sanieren und eine italienische Bottega einbauen. Dabei ergeben sich gleich zwei passende Bezüge: Zu einem früheren Gasthaus an dieser Stelle und zum einst florierenden Ravensburger Zitronenhandel.
Wilhelm Kuhn steht im Erdgeschoss seines Hauses. Die Decke ist schon geöffnet, man blickt von unten auf dicke Holzbalken. „Das sind ausgewachsene Tannen, die von vorne bis hinten durchgehen“, sagt Kuhn. Die Baumstämme müssen um 1368 verbaut worden sein – und halten nach mehr als 600 Jahren immer noch. Seit Kurzem liegt Kuhn die Baugenehmigung für die Sanierung des Hauses vor. Ein Mammutprojekt, das größte, das Kuhn nach eigener Aussage je angepackt hat, aber auch reizvoll – und irgendwie unumgänglich für einen mit Kuhns Verständnis für Stadtkultur in Ravensburg.
Die Sanierung von Altstadthäusern ist wegen der Umsetzung moderner Brandschutz- und anderer Vorschriften in historischem Gemäuer kompliziert und aufwendig. Und auch die Lage in engen Gassen macht Bauarbeiten schwierig. Wer an seinem Haus hänge, investiere mitunter „betriebswirtschaftlich unvernünftige Summen“in die Sanierung, kommentiert der Vorsitzende des örtlichen Haus und Grund Vereins, Friedrich Wilhelm Utz. Und wer viel ausgebe, müsse hinterher viel Miete für die Wohnungen in so einem Objekt verlangen. Aussicht auf dringend benötigte Wohnungen zu günstigen Mieten ergebe sich nach Altbausanierung nicht. Der Architekt
Franz Frankenhauser, ebenfalls engagiert bei Haus und Grund, hingegen meint, dass sich eine gut sanierte Immobilie in guter Lage durchaus lohne.
Auch Kuhn ist der Meinung, sagt aber auch: Wäre die Ravensburger Altstadt nicht schon so gut saniert, würde es auch nicht mehr geschehen, weil die Vorschriften in den vergangenen Jahren massiv zugenommen haben – „und die Erfüllung jeder Vorschrift kostet Geld“, so Kuhn. Er zieht seine Motivation, das Projekt anzugehen, aus dem Wunsch, die Altstadt am Leben zu erhalten. Er sieht seit seiner Kindheit Bewohner kommen und gehen und ist der Überzeugung: „Stadtgeschichte gibt es nur, wenn ein paar Leute Sitzfleisch beweisen und nicht Opportunitäten folgen.“Diese Ravensburger, die bleiben, bildeten ein „Wurzelgeflecht“für die Stadt, so formuliert es Kuhn, aus dem sich auch wieder Neues entwickeln könne. Für die Goldgasse 3 konnte das Stadtarchiv auch die Bewohner so weit in der Vergangenheit feststellen wie nur für wenige andere Häuser: Zwischen 1512 und 1600 war es demnach hauptsächlich von Webern bewohnt. Historischen Aufzeichnungen zufolge lebten zeitweise 13 Personen in dem Gebäude.
Neues aus Altem entwickeln – die weiteren Bezüge zur Geschichte des Hauses in der Goldgasse 3, wo Kuhn künftig nicht nur selbst wohnen, sondern auch zwei Apartments vermieten und seine Bottega mit Feinkost aus Norditalien betreiben will, könnten kaum passender sein. Das Haus war schon einmal Teil eines Gastronomiebetriebs – und auch Ware aus Norditalien wird nicht zum ersten Mal an dieser Adresse verkauft werden.
Kuhn hat vom Stadtarchiv erfahren, dass sein Haus mit großer Wahrscheinlichkeit danach dem Tafernwirtshaus „Zum weißen Lamm“nebenan in der Bachstraße 24 zugeschlagen wurde – dort, wo sich heute das Modehaus Reischmann befindet. „Das bedeutende Gasthaus hatte bis 1730 an seiner Rückseite in der Goldgasse die Pferdestallungen und mit Goldgasse 3 wohl ein weiteres Domizil für den Wirt oder die Gäste des Hauses“, erklärt die Erforscherin von Hunderten Ravensburger Hausgeschichten, Beate Falk vom Stadtarchiv.
Ab 1800 diente das Haus in der Goldgasse der Zitronenhändlerin Anna Maria Auer vom Reschensee aus Südtirol als Warenlager. Zu ihrer Zeit waren Zitronen noch ein Luxusgut und sehr teuer. „Die goldenen Früchte waren seit dem 18. Jahrhundert statt Safran in Mode gekommen und ein Muss auf den Tafeln reicher Leute, sei es als Tisch-Dekoration oder als Zitronenscheiben auf Braten, Torten und Pasteten, auch ein Rezept für einen Zitronensalat findet sich in einem alten Kochbuch im Stadtarchiv“, erklärt Beate Falk. Die Zitrone galt demnach als Frucht des ewigen Lebens, deshalb sei sie auch in Ravensburg auf Beerdigungen von den Hinterbliebenen mitgetragen worden. Beim Tod der Zitronenhändlerin Auer 1824 hinterließ sie in ihrem Lager in der Goldgasse alten Aufzeichnungen zufolge 200 Zitronen.
Das Zitronendepot der Tiroler Hausierhändlerin muss die Ravensburger so fasziniert haben, dass die Goldgasse offiziell Citronengässele hieß, was sich jedoch auf Dauer nicht halten konnte und wieder vergessen wurde, wie Falk erklärt.
Unter den rege wechselnden Besitzern des Hauses waren mehrere Schuster und Schneider, bis 1864 mit Ferdinand Schöpf erneut ein Zitronenhändler aus Tirol dort einzog. Die Geschwister Schöpf, die in der Goldgasse einen Laden für die Früchte betrieben, stammten vom Reschenpass und bezogen ihre Ware ebenso wie die Wanderhändlerin Anna Maria Auer vom Comer See, wo Zitronen seit dem 17. Jahrhundert angebaut wurden, so Falk.
Schöpf verkaufte das Haus schließlich 1893 an den Buchbindermeister Wilhelm Kuhn, Urgroßvater des heutigen Besitzers. „In der langen Geschichte dieses Hauses gibt es niemanden, der es auch nur annähernd so lange bewohnt und bewirtschaftet hat wie wir“, sagt Kuhn. Er räumt auch ein, dass es für ihn nicht immer einfach war, in der Goldgasse zu bleiben. „Ich habe eine Museumsdruckerei übernommen, die noch mit Bleibuchstaben arbeitete und habe sechs Technologiewechsel in meiner Branche mitgemacht“, so Kuhn. Doch er hat mit seiner Familie „Sitzfleisch“bewiesen und schreibt die Geschichte des Hauses weiter.