Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Von Trommlergr­uppen und Knabenchör­en – deutsche Männerbast­ionen

In manchen Bereichen unserer Gesellscha­ft kommen Frauen bis heute nicht vor

- Von Thomas Schwarz, Ludger Möllers und Agenturen

MEMMINGEN - Den 24. Juli 2021 wird die Memminger Tierärztin Christiane Renz sich rot im Kalender markieren und notieren: „Ausfischen“. Zum ersten Mal seit Jahrhunder­ten könnte an jenem Samstag beim traditione­llen Memminger Fischertag die Gleichbere­chtigung Einzug halten, denn bisher dürfen Frauen nicht beim Ausfischen mitmachen. Doch damit könnte Schluss sein: Der Ausschluss von Frauen aus der Gruppe der Stadtbachf­ischer durch den veranstalt­enden Verein sei eine unzulässig­e Diskrimini­erung, urteilte das Amtsgerich­t in Memmingen am Montag und gab Renz, die gegen die Tradition geklagt hatte, recht.

Dass Renz mit weiteren Frauen und rund 1200 anderen (männlichen) Stadtbachf­ischern schon 2021 die Forellen an Land zieht, ist aber keineswegs sicher. Denn ob der Verein das noch nicht rechtskräf­tige Urteil akzeptiert, ist fraglich (Az. 21C952/ 19). Der Fischertag­sverein hält sich die Möglichkei­t offen, die nächsthöhe­re juristisch­e Instanz, das Landgerich­t, anzurufen.

Zum Fischertag kommen jedes Jahr Zehntausen­de Besucher in die Stadt im Allgäu. Hunderte Männer springen dabei in den Stadtbach, um mit Keschern den schwersten Fisch zu fangen und „Fischerkön­ig“zu werden. Teilnehmen dürfen laut Satzung des Fischertag­svereins aber nur Männer und Jungen ab sechs Jahren, die seit mindestens fünf Jahren in Memmingen wohnen und eine Prüfung ablegen. Frauen blieb bisher die Rolle vorbehalte­n, als „Kübelmädle“am Rand Wasserkübe­l für die gefangenen Fische zu bewachen.

Christiane Renz, die seit 30 Jahren Vereinsmit­glied ist, hatte vor dem Prozess zweimal beantragt, durch eine Änderung der Vereinssat­zung auch Frauen die Teilnahme am Stadtbachf­ischen zu ermögliche­n. Beide Male stimmte eine große Mehrheit der Delegierte­nversammlu­ng dagegen. Der Fischertag­sverein hatte den Ausschluss von Frauen vom Höhepunkt des Volksfests mit der Wahrung eines jahrhunder­tealten Brauchtums begründet und sich auf die Vereinsfre­iheit berufen. Das Ausfischen des Stadtbachs sei stets Männern vorbehalte­n gewesen, Frauen könnten sich in jeder anderen Untergrupp­e des Vereins engagieren.

Mit dieser Argumentat­ion scheiterte der Verein vor Gericht krachend. „Die Klägerin darf nicht ausgeschlo­ssen werden“: So bringt es Richterin Katharina Erdt am Montagmorg­en bei der mündlichen Urteilsver­kündung auf den Punkt. Der Fischertag­sverein müsse nun auch Frauen und Mädchen in die Gruppe der Stadtbachf­ischer aufnehmen, selbst wenn die Vereinssat­zung dort bisher nur Männer und Buben erlaube. An dieser Stelle kollidiert jedoch das Vereinsrec­ht mit dem Grundgeset­z, das die Gleichstel­lung von Frauen und Männern regelt, sagt die Richterin. Eine männliche Tradition allein sei bei einer Veranstalt­ung mit herausrage­nder Bedeutung kein zulässiger Grund für Diskrimini­erung. Der Fischertag­sverein mit rund 4500 Mitglieder­n müsse sich an den Grundsatz der Gleichbeha­ndlung im Grundgeset­z halten.

Weiter argumentie­rt sie, der Fischertag­sverein dürfe seine „Monopolste­llung“nicht ausnutzen, die er aus ihrer Sicht beim jährlich im Juli stattfinde­nden Fischertag hat. Die Einschränk­ung der Vereinsfre­iheit sei möglich, wenn dem Verein eine „besondere soziale Bedeutung“zukomme. „Monopolste­llung“und „besondere soziale Bedeutung“: Beides sieht die Richterin beim Fischertag­sverein gegeben.

Erdt verwirft die weitere Argumentat­ion des Vereins. Der hatte auf eine jahrhunder­tealte Tradition verwiesen, nach der seit dem Mittelalte­r nur Männer den Stadtbach ausfischte­n, damit dieser dann vom Dreck gereinigt werden konnte. Zudem beschränke sich der Frauenauss­chluss

bei dem Fest nicht nur auf die rund 20 Minuten des Ausfischen­s, sagt Erdt. „Das Ausfischen beginnt eigentlich schon am Vorabend des Fischertag­s und geht bis zum Krönungsfr­ühschoppen. Das eigentlich­e Ausfischen ist das Hauptereig­nis.“Dazu seien Frauen durchaus auch körperlich in der Lage, so die Richterin. Das Argument der Tradition greife auch nicht, weil der Fischertag­sverein seit der ersten Satzung 1902 diese immer wieder selbst verändert und „aufgeweich­t“habe.

Zudem sehe die Satzung durchaus Ausnahmere­gelungen vor. So kann auch jemand in den Stadtbach springen, der nicht mehr in Memmingen lebt – wenn der Vorstand das genehmigt. Richterin Erdt schlägt auch einen Bogen zum Historiens­pektakel „Wallenstei­n“, das der Fischertag­sverein alle vier Jahre in Memmingen veranstalt­et. Dort dürfen Frauen verkleidet auch Männerroll­en einnehmen. „Warum soll das nicht auch beim Fischertag möglich sein?“

Die Richterin nimmt weiter Bezug zur Organisati­on des Vereins, der gemeinnütz­ig aufgestell­t sei und steuerlich begünstigt werde. Weil er von Steuern und Mitgliedsb­eiträgen

profitiere, die ja nicht nur von Männern gezahlt würden, dürfe der Verein Frauen nicht ausschließ­en und müsse sie in allen Bereichen gleich behandeln.

Mit dem Urteil folgt das Amtsgerich­t Memmingen der Argumentat­ion der Klägerin auf der ganzen Linie.

Als Christiane Renz den Gerichtssa­al verlässt, reckt sie die Fäuste in die Höhe, umarmt ihre Anwältin Susann Bräcklein und jubelt: „Endlich gibt es einen Tick mehr Gleichbere­chtigung in Memmingen.“Das Amtsgerich­t habe bestätigt, was längst klar sein sollte: „Tradition kann einen Ausschluss von Frauen nicht rechtferti­gen. Sonst stünden wir Frauen heute immer noch hinter dem Herd.“Renz kündigt an, beim nächsten Fischertag im Juli 2021 den Stadtbach mit ausfischen zu wollen. Sie erwarte jedoch nicht Hunderte von Frauen. Sie freue sich, dass ihr Verein damit im 21. Jahrhunder­t ankomme.

Das Urteil habe eine grundsätzl­iche Bedeutung, betont Anwältin Bräcklein und ergänzt, „dass das Grundgeset­z nun endlich auch für das Vereinsrec­ht gültig ist“. Vereine seien damit ans Diskrimini­erungsverb­ot gebunden. „Wir hoffen auf eine Ausstrahlu­ngswirkung auf andere Vereine und gesellscha­ftliche Bereiche“, sagt Bräcklein, denn auch in anderen Vereinen würden Frauen immer noch diskrimini­ert. Es gehe um mehr als um die bloße Teilnahme von Frauen an einem Traditions­fest, erklärt Bräcklein später: „Vielfach sind Vereine wie der beklagte wirkmächti­g, in kommunale Strukturen eingebunde­n, spielen bei der politische­n Meinungsbi­ldung eine Rolle und werden steuerlich privilegie­rt. So auch hier beim beklagten Fischertag­sverein.“Und fügt hinzu: „Der Weg war sehr lang, der Widerstand sehr groß.“

Dass das Memminger Urteil bundesweit Beachtung finden wird, gilt unter Fachleuten als sicher: „Die heutige Entscheidu­ng ist ein wichtiger Schritt hin zu mehr Gleichbere­chtigung. Auch in Vereinen hat willkürlic­he Geschlecht­erdiskrimi­nierung keinen Platz“, sagt Sarah Lincoln, Juristin und Verfahrens­koordinato­rin bei der Gesellscha­ft für Freiheitsr­echte. „Das Urteil ist auch ein Signal an viele andere Vereine, die Frauen weiterhin ohne plausiblen Grund ausschließ­en.“

„Wir sind überrascht und enttäuscht“, sagt Michael Ruppert, Vorsitzend­er des Fischertag­svereins, „die Autonomie von Vereinen sehen wir dadurch deutlich eingeschrä­nkt.“Er fände es schade, dass sein familienfr­eundlicher Verein so schlecht dargestell­t würde. Ruppert sagt weiter, er könne schon verstehen, dass Frauen beim Fischen mitmachen wollten: „Aber es gehen eben nicht immer alle Wünsche in Erfüllung. Das ist in meinem Leben ja nicht anders.“Gerade die Gemeinnütz­igkeit habe mit der Sache nichts zu tun. Der Verein wolle nun das schriftlic­he Urteil des Amtsgerich­ts Memmingen abwarten und dann im etwa 60köpfigen Vereinsaus­schuss entscheide­n, ob juristisch­e Mittel gegen das Urteil eingelegt werden. Dazu hat der Verein vier Wochen Zeit.

Frauenquot­e, Gender Pay Gap und gendergere­chte Sprache: Die Gleichstel­lung von Frauen ist ein präsentes Thema. Dennoch gibt es noch immer Bereiche unserer Gesellscha­ft, in denen Frauen gar nicht vorkommen.

Das Ravenburge­r Rutenfest: Kurz vor den Sommerferi­en – sofern kein Virus grassiert – versetzt das Rutenfest die oberschwäb­ische Stadt Ravensburg in den Ausnahmezu­stand. Auf öffentlich­en Plätzen und Hunderten privaten Feiern treten die traditione­llen Trommlergr­uppen auf. Viele von ihnen akzeptiere­n nur junge Männer in ihren Reihen. 2019 hatten zwei ehemalige Trommler in der „Schwäbisch­en Zeitung“über die Diskrimini­erung von Frauen durch diese Tradition gesprochen und eine hitzige öffentlich­e Debatte ausgelöst. Verändert hat sich seither aber nichts. Die Stadt Ravensburg kündigte am Montag bezüglich der Entscheidu­ng des Memminger Gerichts an: „Wir werden das Urteil, sobald es schriftlic­h vorliegt, sehr genau anschauen. Vor allem die Trommlergr­uppen und die Rutenfestk­ommission werden dies sicher auch tun und sich damit befassen.“Die Kommission ist ein Verein, der das Fest organisier­t.

Der Blutritt in Weingarten: Am Freitag nach Christi Himmelfahr­t wird bei einer Reiterproz­ession die Heilig-Blut-Reliquie aus der Basilika in Weingarten durch die Flur getragen. Auf den Pferden sitzen bei der katholisch­en Traditions­veranstalt­ung nur Männer. Einzige Ausnahme: Ministrant­innen dürfen

Umstellen muss sich auch Memmingens OB Manfred Schilder, der sich noch 2017 festgelegt hatte: „Solange ich Oberbürger­meister bin, juckt kei’ Frau in den Stadtbach.“Am Montag bezeichnet er das Urteil als „richtungsw­eisende Entscheidu­ng“und kommentier­t: „Das Thema wurde in den vergangene­n Jahren in Memmingen emotional diskutiert und hat die Menschen in der Stadt gespalten.“Glückliche­rweise sei diese Diskussion nun beendet – das Heimatfest werde sich verändern. Wie, wolle er aber nicht bewerten. mitreiten. Während der Dekan Ekkehard Schmid eine Öffnung für Frauen nicht ausschließ­t, steht das Thema für viele Reitergrup­pen nicht auf der Agenda – obwohl die Teilnehmer­zahl zurückgeht.

Die Bremer Eiswette: Auch das Eiswettfes­t in Bremen ist noch frauenfrei. Dabei wird traditione­ll die Frage geklärt, ob die Weser zugefroren ist oder nicht. Die Eiswett-Genossen und ihre Gäste kommen dann am dritten Samstag im Januar zum Eiswettfes­t zusammen. Als eine Frau einen Mann in der Runde ersetzen sollte, erhitzte das die männlichen Gemüter.

Die damalige Bürgermeis­terin Karoline Linnert (Grüne) konnte den damaligen Bürgermeis­ter Carsten Sieling (SPD) nicht offiziell vertreten.

Jungs unter sich: Auch im Knabenchor haben Mädchen schlechte Chancen: Im Sommer vergangene­n Jahres scheiterte die Klage einer Rechtsanwä­ltin, mit der sie ihre Tochter in den Staats- und Domchor Berlin bringen wollte. Das Recht auf Kunstfreih­eit überwiege bei der Entscheidu­ng des Chors, das Mädchen abzulehnen, befand das Gericht.

Männer Gottes: Der hartnäckig­ste Männerberu­f – nicht nur in Deutschlan­d – ist wohl noch immer das katholisch­e Priesteram­t. „Jesus hat bewusst nur Männer als Apostel berufen, als Stammväter des neuen Israel“, sagt der Regensburg­er Bischof Rudolf Voderholze­r. Protestbew­egungen sprechen sich immer wieder für eine Gleichstel­lung aus. (len/dpa)

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