Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Steinmeier verteidigt die Polizei
Nur wenige Beamte schützten den Reichstag vor Neonazis und Reichsbürgern – Das sorgt für Diskussionen
BERLIN (dpa) - Schwere Gewaltdelikte oder andere Straftaten sind am Samstagabend vor dem Reichstagsgebäude, dem Sitz des Deutschen Bundestags, nicht passiert. Aber die Bilder der lauten Menge mit Reichsflaggen und anderen Fahnen vor dem Parlament wirkten auf viele schockierend. Mehrere Hundert Demonstranten, viele von ihnen aus der Szene der sogenannten Reichsbürger, liefen mit Fahnen und zum Teil auch mit Geschrei die Treppe zum Besuchereingang des Reichstags hoch, wo nur ein paar Polizisten standen. Niemand wurde verletzt. Trotzdem stellen sich Fragen.
Wie kam es zu der Panne bei der Bewachung des großen Baus?
Vor dem Reichstagsgebäude, dem Sitz des Bundestags, standen am Samstagabend als Sicherheitsmaßnahme Absperrgitter und Polizisten. Nach Darstellung der Polizei strömten gegen 19 Uhr viele Demonstranten vom Brandenburger Tor zum Reichstag und dem Platz davor. Die Polizei verlagerte sich zum Teil zu dieser Seite des Gebäudes, um den Zustrom zu bremsen. Gleichzeitig rief laut Polizei eine Frau auf der Bühne der Reichsbürger-Kundgebung direkt vor dem Reichstag dazu auf, das Gebäude zu stürmen. 300 bis 400 Menschen schoben daraufhin die Absperrgitter und Polizisten zur Seite und liefen die Treppe hoch.
zum Schutz des Reichstagsgebäudes abgestellt gewesen, das sei grundsätzlich genug gewesen. Allerdings zeigte der Ablauf der Ereignisse, dass die Polizei eine Zeit lang wohl zu wenig Leute hinter den Absperrgittern hatte und überrumpelt wurde. Das deutet zumindest auf einen Fehler an der Stelle hin. Ein Polizeisprecher hatte am Samstagabend von einer „Lücke“, die genutzt wurde, gesprochen. Nur wenige Minuten später wurde die Treppe von herbeieilender Verstärkung zügig geräumt.
Um welche Demonstranten handelte es sich?
Überwiegend seien Menschen aus der Reichsbürgerszene beteiligt gewesen, so die Polizei. Außerdem ein kleinerer Teil von Demonstranten, „die sich selbst als Patrioten oder Bürgerwehr bezeichnen“. Die angemeldete Kundgebung vor dem Reichstag veranstaltete der Verein Staatenlos, dem Reichsbürger angehören. Dieser Verein sei bekannt und schon öfter bei Demonstrationen aufgetreten, so die Polizei. Ein Aufruf zum Sturm des Reichstags gehöre demnach zur üblichen und ständigen Propaganda dieser Szene. Reichsbürger erkennen den deutschen Staat und die Polizei nicht an und vertreten zum Teil extremistische Ansichten.
Wie viele Polizisten standen in den Minuten des Krawalls direkt vor der aufgebrachten Menge?
Auf Videos sind mindestens drei Polizisten zu sehen, die auf dem oberen Absatz vor dem Eingang stehen. Sie arbeiten in einem Polizeiabschnitt in der Berliner Innenstadt. Weitere Polizisten standen in der Nähe. Die Gewerkschaft der Polizei (GdP) sprach von insgesamt sieben Polizisten an der Stelle.
War auch die Bundestagspolizei dort zuständig und eingebunden? Der Bundestag hat eine eigene Polizei. Die Polizeigewalt in diesem eigenen Polizeibezirk übt der Bundestagspräsident
aus, wie im Internet erläutert wird. Offiziell heißt sie Polizei beim Bundestag. Die Zuständigkeit anderer Polizeibehörden werde damit im Bereich des Bundestags ausgeschlossen, heißt es. Zu dem Bereich zählen Gebäude und Grundstücke.
Was sagt der Bundespräsident? Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier dankte der Polizei für ihren Einsatz bei den teils gewaltsamen Demonstrationen gegen die Corona-Auflagen in Berlin. Nach einem Treffen mit sechs Beamten im Schloss Bellevue rief er am Montag zugleich alle Bürger zum engagierten Einsatz für die Demokratie auf. Zudem warnte er Kritiker und Gegner der staatlichen Corona-Maßnahmen davor, sich bei Demonstrationen „vor den Karren von Demokratiefeinden und politischen Hetzern spannen zu lassen“. Die vielen Tausend Polizistinnen und Polizisten hätten am Samstag „unter hohem persönlichem Risiko mit großer Professionalität Recht und Gesetz verteidigt“, sagte Steinmeier. „Wirksam und beherzt, aber ebenso maßvoll und angemessen haben Sie gezeigt, dass unser Rechtsstaat funktioniert.“
Steinmeier hatte sich zuvor eine knappe Stunde lang mit einer Polizistin und fünf Polizisten – stellvertretend für alle Einsatzkräfte – unterhalten. Unter ihnen waren auch jene drei Polizisten, die in einem vielfach geteilten Video zu sehen sind, wie sie sich auf den Stufen des Reichstagsgebäudes anstürmenden Demonstranten in den Weg stellten. Laut Bundespräsidialamt äußerten die Beamten in dem Gespräch unter anderem den Wunsch, von der Gesellschaft mehr Akzeptanz zu erhalten.