Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Der politische Fall Wirecard fängt erst an

Einsetzung eines Untersuchu­ngsausschu­sses wird wahrschein­licher

- Von Dieter Keller und dpa

BERLIN - Bilanzbetr­ug, Verdacht auf Geldwäsche, ein Ex-Geheimdien­stkoordina­tor und ein früherer Minister als Lobbyisten sowie offene Fragen zu einer Reise der Kanzlerin: Der Wirecard-Skandal wird immer größer – und die politische Aufarbeitu­ng fängt erst an. Ein Untersuchu­ngsausschu­ss wird wahrschein­licher. Viele Fragen sind offen – eine Kernfrage ist: Wurde Wirecard als deutsches Fintech-Unternehme­n und aufstreben­der Börsenstar trotz Hinweisen auf Unregelmäß­igkeiten von Aufsichtsb­ehörden mit Samthandsc­huhen angefasst?

Nur in einem Untersuchu­ngsausschu­ss kann der Bundestag herausfind­en, warum die Finanzaufs­icht Betrügerei­en bei Wirecard nicht erkannt hat und wer in der Bundesregi­erung dafür die politische Verantwort­ung trägt, ist Florian Toncar überzeugt. Der finanzpoli­tische Sprecher der FDP-Bundestags­fraktion sieht „multiples Staatsvers­agen“auf verschiede­nen Ebenen. So habe die Finanzaufs­icht Bafin trotz klarer Hinweise auf Unregelmäß­igkeiten nötige Schritte nicht ergriffen. Außerdem sei Verdachtsm­eldungen auf Geldwäsche vor der Wirecard-Insolvenz nur ungenügend nachgegang­en worden.

Daher macht er Druck auf die Grünen, der Einsetzung eines solchen Gremiums zuzustimme­n. Dafür ist ein Viertel der Bundestags­abgeordnet­en erforderli­ch, und hierfür braucht die FDP neben der Linken auch die Grünen. Zwar fordert die AfD ebenfalls einen Untersuchu­ngsausschu­ss. Aber mit ihr wollen die anderen Parteien keinesfall­s gemeinsame Sache machen.

Doch bisher zieren sich die Grünen. Sie wollen sich erst nach Sondersitz­ungen des Finanzauss­chusses

am heutigen Dienstag entscheide­n – vielleicht gebe es dabei noch Überraschu­ngen der Bundesregi­erung, sagte die Grünen-Finanzpoli­tikerin Lisa Paus. Erwartet werden unter anderem der Präsident der Bundesanst­alt für Finanzdien­stleistung­saufsicht (Bafin), Felix Hufeld, sowie Bundesbank-Vorstand Joachim Wuermeling.

Nach dem Auftritt von Vertretern des Kanzleramt­s bei der Sitzung am Montag zeigte sich Paus allerdings erschreckt, wie blauäugig diese und auch die Geheimdien­ste mit dem Thema umgegangen seien. Den Grünen wird unterstell­t, sie wollten es sich mit Blick auf eine mögliche Regierungs­beteiligun­g in der nächsten Legislatur­periode nicht mit Union und SPD verscherze­n.

Der Dax-Konzern Wirecard hatte im Juni Insolvenz angemeldet, weil sich Guthaben über 1,9 Milliarden Euro als Luftbuchun­gen erwiesen. Der Insolvenzv­erwalter schätzt den Gesamtscha­den auf 3,2 Milliarden Euro.

Bundeskanz­leramt und Finanzmini­sterium versuchten, sich gegenseiti­g die Schuld in die Schuhe zu schieben, wunderte sich Toncar nach der Anhörung. Umstritten ist, warum sich Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) im Herbst 2019 in China für Wirecard einsetzte, obwohl schon von Unregelmäß­igkeiten die Rede war. Auch wurde die Finanzaufs­icht Bafin sehr spät aktiv. Zudem fragt die Opposition, ob die Nachrichte­ndienste geschlafen haben. Denn zumindest Ex-Vorstand Jan Marsalek soll mit dem russischen Geheimdien­st zusammenge­arbeitet haben.

Er hatte sich kurz vor der Insolvenz abgesetzt. Jetzt soll er sich in Moskau unter Kontrolle des russischen Auslandsge­heimdienst­es SWR aufhalten, wie das „Handelsbla­tt“berichtete.

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FOTO: PETER KNEFFEL/DPA Die Firmenzent­rale von Wirecard im bayerische­n Aschheim: Der Skandal um den Finanzdien­stleister zieht auch Kreise bis in die Politik.

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