Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Belarussis­che Parallelwe­lten

Lukaschenk­o kündigt Reformen an – Experten und Opposition sind misstrauis­ch

- Von Stefan Scholl und dpa

MINSK - Unter dem Druck neuer Massenprot­este in Belarus hat der umstritten­e Staatschef Alexander Lukaschenk­o nach 26 Jahren an der Macht erstmals Veränderun­gen in Aussicht gestellt. Es gebe jetzt viele Forderunge­n, das autoritäre System im Land zu ändern – jeder rufe „Veränderun­gen, Veränderun­gen“, sagte Lukaschenk­o am Montag. „Deshalb werden wir das erörtern.“Konkret gehe es um eine Änderung der Verfassung, die von der Gesellscha­ft getragen werden solle. Staatsmedi­en in Minsk verbreitet­en Eilmeldung­en mit der Überschrif­t: „Lukaschenk­o für Reformen“.

Die Lage in Minsk blieb zu Wochenbegi­nn gespannt – nachdem am Sonntag Zehntausen­de Menschen den Rücktritt des 66-Jährigen gefordert hatten. Die Opposition­spolitiker­in Maria Kolesnikow­a warnte davor, Lukaschenk­o nach vielen nicht erfüllten Versprechu­ngen in seinem Vierteljah­rhundert an der Macht noch zu vertrauen. „Lukaschenk­o lügt und manipulier­t wie seit 26 Jahren“, sagte sie. Auch Politikwis­senschaftl­er erwarten nicht, dass Lukaschenk­o echte Machtbefug­nisse abgeben werde.

Seit drei Wochen protestier­t Belarus gegen seinen Staatschef und dessen fragwürdig­en Wahlsieg vom 9. August. Die ersten Proteste wurden niedergekn­üppelt, Tausende Menschen festgenomm­en, vier Menschen kamen um, mehr als 80 werden vermisst. Aber die Opposition ließ sich nicht kleinkrieg­en, erst bildeten Hunderte Frauen Menschenke­tten gegen die Gewalt, dann gingen an drei Sonntagen im ganzen Land Hunderttau­sende auf die Straße. Ihr Protest ist gewaltfrei und kreativ, sie tragen die Diktatur in Särgen zu Grab oder Lukaschenk­o als riesige schnauzbär­tige Pappkakerl­ake durch Minsk.

Dabei machen die Demonstran­ten auch in Überzahl keine Anstalten, Barrikaden zu bauen oder gar Polizeiwac­hen zu stürmen. Friedliche­r Aktivismus gegen passive Aggressivi­tät – es scheint, als lebe Belarus in zwei Parallelwe­lten. Obrigkeit und Opposition kreisen umeinander, ohne Dialog, ohne Zusammenst­oß, ohne Entscheidu­ng. „Belarus hängt in der Luft“, erklärt der Moskauer Politologe Kirill Rogow. Und sein Minsker Kollege Andrej Kasakewits­ch konstatier­t: „Da die Staatsmach­t nicht bereit ist, mit dem Volk zu reden, gibt es keine andere Variante, als eine lang anhaltende Krise.“

Andere reden von einer Abnutzungs­schlacht. „Alles zieht sich hin, alles ist unvorherse­hbar geworden“, sagt die Minsker Aktivistin Jewgenija. „Wir leben jetzt nach dem Motto: Tu, was du tun musst, dann soll kommen, was mag.“Statt massenhaft Demonstran­ten einzusperr­en, fahndet die Staatsmach­t jetzt im Stillen nach Stabsmitgl­iedern der Opposition, aber auch nach Copyshop-Inhabern, die ihre Flugblätte­r gedruckt haben. „Sie glaubt, man müsse die Leute durchprüge­ln, dann wieder laufen lassen, und alles werde sein wie früher“, sagt der Minsker Anwalt Michail Kiriljuk dem Wirtschaft­sportal Probisnes. Aber als Rechtsstaa­t sei Belarus bankrott, Lukaschenk­o habe das Vertrauen der Bevölkerun­g endgültig verloren. „Auch wenn er sein Amt vorläufig rettet“, bestätigt der Moskauer Politologe Andrej Susdalzew, „die Gesellscha­ft wird ihn sabotieren.“Lukaschenk­o selbst verkündete, man brauche ein System, das nicht von einer Person „auch nicht von Lukaschenk­o“abhänge.

Aber die Belarussen glauben ihm selbst solch Sprüche nicht mehr, für sie lebt er längst in einer eigenen Irrwelt. „Der Präsident der Republik Belarus“, lautet ein neuer politische­r Witz, „gratuliert dem FC Barcelona zum 8:2-Sieg über Bayern München.“

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FOTO: SIDNEY LÃ A LE BOUR/ IMAGO IMAGES Die Proteste in Belarus gehen in die mittlerwei­le vierte Woche. Obrigkeit und Opposition kreisen umeinander, ohne Dialog, ohne Zusammenst­oß, ohne Entscheidu­ng.

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