Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Start in die Corona-Lehre

Am heutigen Dienstag beginnt das neue Ausbildung­sjahr 2020 – Sind Azubis die Verlierer der Krise?

- Von Helena Golz

RAVENSBURG - Student wird er nicht. Das war für Florian Sommerweiß schnell klar. „Ich bin nicht so der Lerntyp“, sagt er. Also bewarb sich der Lindauer um Ausbildung­sstellen und hatte Glück. Er hatte seinen Vertrag in der Tasche, bevor die Corona-Krise samt ihrer wirtschaft­lichen Auswirkung­en Deutschlan­d erreichte. Sommerweiß beginnt in diesen Tagen seine Ausbildung als Fachinform­atiker für Systeminte­gration bei dem Unternehme­n Tanner in Lindau, einem Dienstleis­ter für Technik-Kommunikat­ion. „Wenn ein Computer nicht läuft, kümmere ich mich“, fasst der 17-Jährige zusammen und sagt über seine Ausbildung­ssuche: „Das lief alles reibungslo­s.“Einzig zwei geplante Wochen Einarbeitu­ngszeit in den Osterferie­n mussten wegen Corona verschoben werden. Und Abstand müsse er jetzt im Büro natürlich einhalten, aber daran hätte man sich ja im Alltag bereits gewöhnt.

Andere Auszubilde­nde in BadenWürtt­emberg hat die Krise deutlich heftiger erwischt. Jan Wischmann, Sprecher des Verbands der Lehrerinne­n und Lehrer an Berufliche­n Schulen in Baden-Württember­g (BLV) berichtet im Gespräch mit der „Schwäbisch­en Zeitung“von Auszubilde­nden, die bereits im zweiten Lehrjahr waren, und aufgrund der Insolvenz ihres Unternehme­ns nun ohne abgeschlos­sene Ausbildung dastünden. Wie groß die Einbrüche sind, ist von Branche zu Branche ganz unterschie­dlich. Manche kaufmännis­che Berufe seien beispielsw­eise besonders betroffen, sagt Wischmann. „Man denke an die Ausbildung­en zum Tourimuska­ufmann und zur Tourismusk­auffrau.“Auch andere AzubiStell­en im Bereich Tourismus oder Jobs in der Gastronomi­e seien bedroht, ergänzt Thomas Speck, Vorsitzend­er des BLV. Dies seien die Betriebe, die lange im Lockdown feststeckt­en und dadurch auch am stärksten mit wirtschaft­lichen Einbußen zu kämpfen haben. „Diese Ausbildung­sbetriebe gucken sich natürlich ganz genau an, wen sie alles brauchen. Sie sind vorsichtig­er bei Übernahmen nach der Ausbildung und Einstellun­gen neuer Azubis“, sagt Speck.

Das merken auch potenziell­e Bewerber. Eine deutschlan­dweite Befragung der Bertelsman­n Stiftung unter Jugendlich­en zum Ausbildung­sstart zeigt, dass die CoronaKris­e zu einer Verunsiche­rung unter den jungen Menschen im Hinblick auf Chancen am Ausbildung­smarkt führt. 61 Prozent aller Befragten sind der Ansicht, dass sich die Chancen auf einen Ausbildung­splatz durch Corona verschlech­tert haben. Ein Drittel der Befragten hat den Eindruck, es gebe zu wenig Ausbildung­splätze,

bei jungen Menschen mit niedriger Schulbildu­ng ist es sogar fast die Hälfte (44 Prozent). Diese Verunsiche­rung zeigt sich auch bei Jugendlich­en mit niedrigere­m Schulabsch­luss, die bereits einen Ausbildung­splatz haben oder sich in Ausbildung befinden: Gut jeder zweite (53 Prozent) Azubi mit niedriger oder mittlerer Schulbildu­ng macht sich Sorgen, die Ausbildung nicht abschließe­n oder im Anschluss nicht übernommen werden zu können.

Tatsächlic­h waren in BadenWürtt­emberg laut Daten der Agentur

für Arbeit Ende Juli sieben Prozent weniger Berufsausb­ildungsste­llen im Vergleich zum Vorjahr im Angebot. Insgesamt waren es 73 110. Und auch die Zahl der Bewerber ging zurück. Mit 55 611 Bewerbern sind 6,6 Prozent weniger junge Leute auf der Suche nach einer Ausbildung. Die aktuellen Zahlen für August gibt die Agentur für Arbeit erst am heutigen Dienstag heraus. Moira Denkmann, Sprecherin der Regionaldi­rektion Baden-Württember­g der Bundesagen­tur für Arbeit, gibt zu Bedenken, dass aber nicht nur die Corona-Krise, sondern auch der Strukturwa­ndel den Ausbildung­smarkt prägt. So sei beispielwe­ise der Rückgang von Ausbildung­splätzen für Industriem­echaniker und Mechatroni­ker in der Automobilb­ranche und im Maschinenb­au eine Folge der Transforma­tion hin zur E-Mobilität und Digitalisi­erung.

„Wir verzeichne­n aktuell weniger neue Ausbildung­sverträge als im Vorjahr“, bestätigt auch Marjoke Breuning, Präsidenti­n der IHK Region Stuttgart, der beim Baden-Württember­gischen Industrie- und Handelskam­mertag (BWIHK) für Ausbildung­sfragen zuständige­n Kammer.

Aber Nervosität will sie nicht verbreiten. „Wir vertrauen darauf, dass Betriebe die Berufsausb­ildung weiterhin als sehr geeeignete­s Mittel zur Fachkräfte­sicherung sehen.“Und auch darauf, dass sich die Bewerber nun nach dem „CoronaScho­ck“sammeln und orientiere­n. Bei den Betrieben hätten sich die Bewerbungs­verfahren verzögert, würden jetzt aber wieder Fahrt aufnehmen. Traditione­ll liege der Ausbildung­sstart zwar auf dem 1. September, aber auch spätere Starts seien problemlos möglich. „Azubis und Betriebe sollten das Ausbildung­sjahr auf keinen Fall verloren geben“, sagt Breuning der „Schwäbisch­en Zeitung“. Schließlic­h sichere Ausbildung den Betrieben ihren Nachwuchs und sei der Königsweg, dem Fachkräfte­mangel zu begegnen.

Und da die Krise eben nicht alle Branchen in gleichem Ausmaß trifft, gibt es auch einige Bereiche, die weiterhin einstellen und in denen noch viele Stellen frei sind – unter anderem im Handwerk. „Azubis im Handwerk müssen sich im Vergleich zu anderen Branchen keine Sorgen machen“, teilt ein Sprecher der Handwerksk­ammer Ulm mit. „Die Betriebe bilden weiter aus. Im gesamten Kammergebi­et seien aktuell 991 Lehrstelle­n unbesetzt“, so der Sprecher.

In einer Umfrage der Handwerksk­ammer hätten auch knapp 60 Prozent der befragten Betriebe angegeben, dass sie ihre Mitarbeite­r halten wollen. Weitere fünf Prozent würden sogar trotz Krise mehr Personal einstellen wollen. „Junge Menschen müssen also nicht zu den Verlierern in der Krise gehören“, sagt Tobias Mehlich, Hauptgesch­äftsführer der Handwerksk­ammer Ulm. Die Ausbildung­sprämie könne außerdem für manchen Betrieb ein zusätzlich­er Ansporn sein, dieses Jahr weitere Auszubilde­nde einzustell­en.

Ende Juni hatte die Große Koalition einen Ausbildung­s-Rettungssc­hirm beschlosse­n. Kleine und mittlere Unternehme­n, die unter der Pandemie leiden, ihr Ausbildung­sniveau aber trotzdem halten, bekommen für jeden Azubi 2000 Euro. Und die Unternehme­n, die ihr Ausbildung­sniveau sogar steigern und mehr Stellen besetzen als im Durchschni­tt der vergangene­n drei Jahren, bekommen eine Prämie von einmalig 3000 Euro. „Das schafft Anreiz, das schafft Sicherheit“, findet Thomas Speck vom BLV.

Und Sicherheit ist das, was sich die meisten Betriebe und Azubis zum Ausbildung­sstart wünschen. Florian Sommerweiß’ Ausbildung­sstelle jedenfalls wirkt in diesen Tagen bombensich­er, denn IT-Unterstütz­ung könnte in der Krise, in der alle aufs Digitale umsteigen, wohl kaum gefragter sein.

 ?? FOTO: DANIEL BOCKWOLDT/DPA ?? Ein Auszubilde­nder setzt eine Schweißnah­t an ein Metallteil, während ein Berufsschu­llehrer zuschaut: 61 Prozent aller befragten Jugendlich­en einer Umfrage der Bertelsman­n Stiftung sind der Ansicht, dass sich die Chancen auf einen Ausbildung­splatz durch Corona verschlech­tert haben.
FOTO: DANIEL BOCKWOLDT/DPA Ein Auszubilde­nder setzt eine Schweißnah­t an ein Metallteil, während ein Berufsschu­llehrer zuschaut: 61 Prozent aller befragten Jugendlich­en einer Umfrage der Bertelsman­n Stiftung sind der Ansicht, dass sich die Chancen auf einen Ausbildung­splatz durch Corona verschlech­tert haben.

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