Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
„Luftschloss“vor dem Ersten Weltkrieg
Das kurze Comeback der Welfen – und was eine Adelshochzeit damit zu tun hat
RAVENSBURG - Zur gleichen Zeit, als die Stadt Ravensburg sich daran machte, Teile der alten Brüstungsmauer der Veitsburg zu restaurieren, wurde am 10. Februar 1913 die Verlobung der Prinzessin Viktoria Luise von Preußen, der einzigen Tochter Kaiser Wilhelms II., mit dem Prinzen Ernst August von Hannover aus dem Haus der Welfen bekannt gegeben.
Der Ravensburger Oberbürgermeister Andreas Reichle hielt vor den im Rathaus versammelten Gemeinderäten und Bürgerausschussmitgliedern eine Rede und konstatierte: „Ist es ja doch ein Spross des alten Welfengeschlechtes, das hier auf der Veitsburg seinen Stammsitz hatte, der mit der einzigen Kaisertochter ein Herzensbündnis schließt, das zugleich von großer, ganz Deutschland erfreuender, politischer Bedeutung ist.“Mehlsack, Veitsburg und Rathaus trugen Flaggenschmuck. Die Hochzeit von Viktoria Luise von Preußen und Ernst August von Hannover am 24. Mai 1913 in Berlin war ein glamouröses, auch medienwirksam inszeniertes Spektakel. Über eine Million Menschen säumten die Straßen der Stadt, erstmals hielten Filmkameras eine Adelshochzeit fest, sowohl der englische König Georg V. als auch der russische Zar Nikolaus II. waren mit ihren Gemahlinnen zu den Feierlichkeiten angereist – es war die letzte Begegnung der beiden Monarchen mit Kaiser Wilhelm II. vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs im August des folgenden Jahres.
Mit dieser Welfen-HohenzollernHochzeit wurde die Aussöhnung der beiden seit fast einem halben Jahrhundert verfeindeten Fürstenhäuser vollzogen. Auf dem Weg zur Reichsgründung (1871) hatte Preußen 1866 unter anderem das Königreich Hannover, das im sogenannten Deutschen Krieg wie auch Württemberg, Baden, Bayern und Sachsen mit Österreich verbündet gewesen war und dessen Niederlage (Schlacht bei Königgrätz) geteilt hatte, annektiert. Die Welfen hatten ihre dortigen Herrschaftsrechte eingebüßt, der entthronte König Georg V. sich gezwungen gesehen, das Land zu verlassen und nach Österreich ins Exil zu gehen.
Ähnlich wie in vielen anderen Städten wartete nun aus Anlass dieser Hochzeit 1913 auch die „Oberschwäbische Volkszeitung“mit einer aufwendig gestalteten Sonderausgabe auf – darin ein ausführlicher, mit Abbildungen versehener Beitrag zum Thema „Die Ravensburg. Ein
Stammschloß der Welfen“, verfasst von Karl Otto Müller, dem renommierten, aus Ravensburg stammenden Rechtshistoriker und damaligen Leiter des Staatsarchivs Ludwigsburg. Der Gemeinderat hatte neun Ansichten der Veitsburg von dem bekannten Ravensburger Fotografen Peter Scherer als Hochzeitsgeschenk anfertigen lassen und diese in einer von „Hofbuchbinder“Schwander gestalteten Mappe mit Wappenaufdruck übersandt; die „Widmung in prächtiger Kunstschrift“hatte der Kirchenmaler Julius Ostermeier ausgeführt.
In Folge komplizierter Absprachen vor der Hochzeit wurde mit Ernst August, Enkel des letzten Königs von Hannover, dann im November 1913 wieder ein Welfe Herzog von Braunschweig. Er hatte die Reichsverfassung anerkannt und war in die preußische Armee eingetreten, um sich diese Anwartschaft zu sichern. Nach dem Tod des welfischen Herzogs Wilhelm von Braunschweig (1884), der ohne legitime Erben geblieben war, hatten über viele Jahre zunächst Prinz Albrecht von Preußen und nach ihm Herzog Johann Albrecht von Mecklenburg die Regentschaft in dem Herzogtum ausgeübt. Über die Thronbesteigung Ernst Augusts in Braunschweig und damit gewissermaßen die Rehabilitation der Welfen berichteten der „Oberschwäbische Anzeiger“und die „Oberschwäbische Volkszeitung“erneut ausführlich; wieder wurden Flaggen auf dem Mehlsack und der Veitsburg aufgezogen.
Ravensburg präsentierte sich dezidiert als „alte Welfenstadt“, allerdings war die süddeutsche Linie dieses Adelsgeschlechtes bereits 1191 erloschen. Die Stadtväter verfolgten mit all diesen Aktivitäten auch das Kalkül, das nun wieder in einem – wenn auch kleinen – Bundesstaat des deutschen Kaiserreichs regierende, alte Fürstenhaus der
Welfen für die Veitsburg, ihre einstige, im Kern bereits von Herzog Welf IV. um 1060/80 errichtete Stammburg, zu interessieren und sie für eine Unterstützung der anstehenden Restaurierungsarbeiten und bauhistorischen Untersuchungen, ja im günstigen Fall sogar als tatkräftige Förderer für einen – wenigstens teilweisen – Wiederaufbau der 1647, im vorletzten Jahr des Dreißigjährigen Krieges, durch Brandstiftung größtenteils zerstörten Anlage zu gewinnen; auch Karl Otto Müller hatte in seinem historischen Beitrag den Gedanken einer Wiederherstellung „im alten Glanze“propagiert. Zu einem solchen Kraftakt war die Stadt Ravensburg aber finanziell nicht ansatzweise in der Lage. Vor Augen hatte man aber doch Beispiele wie Schloss Stolzenfels am Rhein bei Koblenz oder die Burg Hohenzollern bei Hechingen, die beide von den preußischen Hohenzollern im 19. Jahrhundert unter Einbeziehung historischer Reste in neugotischem Stil wieder aufgebaut worden waren.
Der welfische König Georg V. von Hannover, der Großvater des neuen Herzogs von Braunschweig, hatte die repräsentative Marienburg bei Hannover ab 1858 als Sommerresidenz, Jagdschloss und Witwensitz in neugotischen Formen errichten lassen. Nicht zuletzt hatte er sich auch für die Heimat seiner Ahnen interessiert und Ravensburg samt der Veitsburg bereits im Oktober 1852 besucht; auch zur Welfengruft in der ehemaligen Klosterkirche von Weingarten hatte Georg V. sich damals führen lassen und angesichts ihres schlechten Zustandes eine Neugestaltung in Auftrag gegeben. Und schließlich hatte er einige Jahre später im Zuge des neugotischen Umbaus der Evangelischen Kirche in Ravensburg auch eines der sieben „Reformatorenfenster“gestiftet. Um 1860 war sogar ein Erwerb der Veitsburg durch Georg V. im Gespräch gewesen, doch schließlich erwarb die Stadt Ravensburg im Jahre 1875 die Anlage, die knapp 70 Jahre zuvor, noch während der kurzen Zugehörigkeit Ravensburgs zu Bayern, an Private veräußert worden war.
Auch Ernst August, der Enkel Georgs V., zeigte historisches Interesse an der Veitsburg. Karl Alber, der damalige Inhaber der Dorn´schen Buchhandlung, sandte ihm ab 1908 – er lebte zu dieser Zeit noch im Exil im österreichischen Gmunden am Traunsee – auf Wunsch einige reproduzierte historische Ansichten und eine eigens von Josef Marschall gefertigte Radierung zu, die den baulichen Zustand der Burg vor ihrer Zerstörung zeigten. Nun, im Sommer
1913, gingen die Ravensburger nicht ungeschickt vor. Friedrich Krauß, Gardinenfabrikant und Vorsitzender des örtlichen Naturkundevereins, der auch an der bereits erwähnten Festausgabe der „Oberschwäbischen Volkszeitung“mitgewirkt hatte, nahm – wohl in Absprache mit dem Oberbürgermeister – Kontakt mit dem Architekten und Burgenforscher Bodo Ebhardt in Berlin auf. Der Briefwechsel ist im Stadtarchiv Ravensburg erhalten. Bekannt geworden durch die Rekonstruktion zahlreicher Burgen, arbeitete Ebhardt zu dieser Zeit vor allem an der Restaurierung und Ergänzung der Veste Coburg; wenige Jahre zuvor hatte er das hohenlohische Schloss Neuenstein umgebaut, vor allem aber – im Auftrag des deutschen Kaisers – die Hohkönigsburg im Elsass rekonstruiert.
Ebhardt, der auch der Deutschen Burgenvereinigung vorstand, war mit Kaiser Wilhelm II., dem Schwiegervater des neuen Herzogs von Braunschweig, gut bekannt. Auf das Schreiben von Krauß antwortete er freundlich und stellte sogar, wie übrigens auch das Braunschweiger Herzogspaar, eine Besichtigung der Veitsburg in näherer Zukunft in Aussicht. Zur Vorbereitung sandte man ihm wie gewünscht zunächst einmal „Katasterkarten, Photographien, Ansichtskarten sowie auch literarisches Material“zu. Krauß wies werbend auf „brauchbares Material zu Betonarbeiten“im nächsten Umfeld, auf das angenehme Klima in Bodenseenähe, auch auf die „Gelegenheit für Jagden“in den Wäldern der Umgebung hin. Ebhardt merkte allerdings an, dass nach seinen „vielfachen Erfahrungen auf dem Gebiet es durchaus nicht leicht ist, ein so grosses Unternehmen wie die Wiederherstellung einer solchen Burg durchzuführen. Insbesondere ist es nicht leicht, das öffentliche Interesse so weit zu gewinnen, dass eine solche Wiederherstellung auch von der allgemeinen Volksgunst getragen wird, ganz abgesehen davon, dass sehr erhebliche Mittel dazu gehören, um den Bau sachgemäss durchzuführen“.
Doch bevor die Besuche des Braunschweiger Herzogpaares und Ebhardts in Ravensburg stattfinden konnten und das Vorhaben irgendeine konkrete Gestalt annehmen konnte, entzog der Ausbruch des Ersten Weltkrieges im Jahre 1914, die deutsche Niederlage und das Ende sämtlicher deutscher Monarchien, auch jener der Welfen im Herzogtum Braunschweig, im November 1918 diesen Ravensburger Ambitionen und Wunschträumen den Boden.
Die Hochzeit von Viktoria Luise von Preußen und Ernst August von Hannover am 24. Mai 1913 in Berlin war ein glamouröses Spektakel.
Ravensburg präsentierte sich dezidiert als „alte Welfenstadt“, allerdings war die süddeutsche Linie dieses Adelsgeschlechtes bereits 1191 erloschen.
Auch zur Welfengruft in der ehemaligen Klosterkirche von Weingarten hatte Georg V. sich damals führen lassen.