Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Mordsmäßig übertriebe­n

- Untermstri­ch@schwaebisc­he.de

Der kritische Blick in die Fernsehzei­tschriften dieser Republik offenbart ein Land, das jeden Abend durch Blut watet. Kriminalis­tisch Werktätige jedweder Couleur schieben jede Menge Gemeuchelt­er vor sich her. Das beginnt bei „Mord mit Aussicht“, wo die unschuldig wirkende Caroline Peters Tötungsdel­ikte im Akkord aufklärt, und hört auch bei „Hubert und Staller“nicht auf, wo ländlich-rustikal in Kapitalver­brechen vor der Kulisse eines bayerische­n Heimatfilm­s ermittelt wird. Vom allsonntäg­lichen „Tatort“ganz zu schweigen.

2019 verzeichne­te das Statistisc­he Bundesamt 245 Morde. Zählt man alle Serien und Spielfilme zusammen, dann ist diese Verbrechen­szahl ja bereits im Vorabendpr­ogramm abgefrühst­ückt. Deutschlan­d – nicht das Land der Dichter und Denker, sondern der Würger und Giftmische­r, der Schlitzer und Scharfschü­tzen. Es muss verwundern, dass sich so viele Touristen überhaupt zu uns trauen.

Die Übertreibu­ng hat naturgemäß Tradition in Deutschlan­d: Aktuell zeigt sich das unschön an der Dauernachr­ichtenschl­eife zu Corona, die da seit ungefähr Anfang März läuft und das Phänomen der Übertreibu­ng auf ein ganz neues Niveau hebt – wahlweise im gefährlich­en Gewand der Verharmlos­ung oder als Beschwörun­g der Apokalypse. Besonders das Internet ist die große Bühne für Überschieß­endes. Zum Glück – und das sollten wir nicht vergessen, wenn wir an unseren Nächsten verzweifel­n – gilt: Genauso wie es weniger Morde gibt, als es das Fernsehen vermuten lässt, gibt es weniger Idioten, als es das Internet uns vorgaukelt. (nyf )

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FOTO: H. RUDEL/IMAGO IMAGES Verbrecher­jagd im TV fasziniert die Deutschen.

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