Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Über das Ziel hinausgeschossen
Verwaltungsgerichte pochen bei der Beurteilung von Corona-Maßnahmen verstärkt auf Verhältnismäßigkeit
MÜNCHEN - Schauplatz war in der vergangenen Woche das breite Kiesufer der Isar in München: Ein Ehepaar über 50 legte in der dort ausgewiesenen Grillzone weitab anderer Sonnenanbeter gerade zwei Schweinesteaks auf den mitgebrachten Grill, als zwei Bedienstete des Kreisverwaltungsamts erschienen. Sie müssten die Steaks wieder vom Grill nehmen und das Feuer löschen, verlangten die Ordnungshüter, wegen der Corona-Gefahr. Bleiben könnten sie schon, das sei erlaubt.
Solche Szenen ähneln denen zu Beginn der Corona-Krise, als eifrige Ordnungshüter Rentner von Parkbänken verscheuchten. Dem hat jetzt der Bayerische Verwaltungsgerichtshof einen Riegel vorgeschoben und das landesweit vorgeschriebene Grillverbot gekippt. Mit deutlichen Zeichen des Missvergnügens strich das Gesundheitsministerium die Vorschrift aus der Infektionsschutzmaßnahmenverordnung. Die Grillsaison neige sich sowieso ihrem Ende zu, hieß es. Aus Sicht der CoronaBekämpfung sei die Gerichtsentscheidung aber ein fragwürdiges Signal.
Eine weitere juristische Klatsche hielt das Gericht für den Münchener Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD), indirekt aber auch für die bayerische Landesregierung, bereit. Wegen einzelner Zusammenballungen
Feiernder auf öffentlichen Plätzen des Stadtgebiets hatte Reiter ein generelles Alkohol-Konsumverbot zwischen 23 und sechs Uhr auf öffentlichen Plätzen im gesamten Stadtgebiet per Allgemeinverordnung verfügt. Auch das kippte der Verwaltungsgerichtshof mit ähnlicher Begründung wie das staatliche Grillverbot: Unverhältnismäßig. Ministerpräsident
Markus Söder (CSU) und Staatskanzleiminister Florian Herrmann (CSU) hatten das Verbot der Landeshauptstadt mehrfach ausdrücklich unterstützt.
Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof, bei dem die meisten dieser Verfahren in zweiter Instanz landen, schaut jetzt genauer hin als zu Beginn der Pandemie, als die Infektionszahlen exponenziell in die Höhe schossen. Undifferenzierte Verbote finden nicht mehr die Zustimmung des obersten bayerischen Gerichts in Verwaltungsangelegenheiten wie etwa das der Gastronomie auferlegte Beherbergungsverbot für Gäste aus Regionen, in denen die Infektionsrate besonders hoch ist. Der Clou dieser damals getroffenen Regelung: Das als unverhältnismäßig gekippte Beherbergungsverbot sollte nur für Bürger aus anderen Bundesländern gelten.
Für „unverhältnismäßig“hielten die Richter auch die ursprünglich vorgeschriebene Begrenzung der Bewirtungszeiten in Gaststätten auf die Zeit zwischen sechs und 22 Uhr. Das Verwaltungsgericht Regensburg hatte gleich mehrfach für juristische Niederlagen des Freistaats gesorgt: bei den Beschränkungen für Geschäfte und Gastronomie sowie dem Verbot, Wellnessanlagen zu nutzen, und zum anderen bei den Beschränkungen der Kinderbetreuung.
Der Grundgedanke dahinter ist immer ähnlich: Maßnahmen und
Verbote dürfen nicht über das verfolgte Ziel, nämlich den Infektionsschutz, hinausschießen. Wer an einem einsamen Ort am Donauufer ein Würstchen über einem Feuer brät, dem darf das nicht verboten werden. Missbrauch und Fehlverhalten Einzelner als Anlass zu Verboten und Beschränkungen für alle zu nehmen, ist bei den Ordnungsämtern beliebt, weil leichter zu vollziehen. Die bayerischen Verwaltungsgerichte aber pochen inzwischen verstärkt auf Differenzierung.
Die jüngsten Entscheidungen des Verwaltungsgerichtshofs haben die Erfolgsbilanz der Staatsregierung in Corona-Sachen verschlechtert. Ende Juni hatte Staatskanzleichef Florian Herrmann die Zahl der nicht gewonnenen Gerichtsverfahren in Sachen Corona-Verbote auf gerade einmal acht von mehr als 200 beziffert. Den Vorsitzenden der FDP im bayerischen Landtag Martin Hagen überzeugte das schon damals nicht: Die Staatsregierung lasse sich von den Gerichten treiben, ohne von sich aus immer wieder zu überprüfen, ob ihre Maßnahmen angesichts der Infektionslage noch verhältnismäßig sind oder nicht.
Bayerns Ministerpräsident Söder ist hingegen der Ansicht, dass die paar verlorenen Fälle nicht groß ins Gewicht fallen. Die Corona-Verordnungen seiner Regierung seien generell juristisch vertretbar und verhältnismäßig.