Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Spur führt auch in den Süden

Fall Bergisch Gladbach: 13 Verdächtig­e in Bayern, sechs in Baden-Württember­g

- Von Dirk Grupe

FRIEDRICHS­HAFEN - Die Kriminalpo­lizeidirek­tion Friedrichs­hafen ist in einem Gebäude beheimatet, das sich in seiner Anmutung kaum von anderen Behörden unterschei­det, schmucklos und sachlich. Ein Zimmer im zweiten Stock am Ende eines langen Ganges bildet jedoch eine Ausnahme. Die Wände sind in warmem Gelb gestrichen und eine halbrunde Sitzecke mit roten Polstern signalisie­rt Geborgenhe­it. Ein Teddybär und eine Spielkiste vervollstä­ndigen das Bild. „Kindervern­ehmungszim­mer“nennt sich dieser Raum, Geständnis­se werden hier allerdings nicht abgelegt.

Es ist ein Ort für die Opfer. Wo sie für einen Moment zur Ruhe kommen sollen und womöglich Kraft und Worte finden für das eigentlich Unaussprec­hliche. Das ihnen zugefügt wurde von Erwachsene­n, nicht selten von Vertrauten und Verwandten, von Vätern und auch von Müttern. In vielen Fällen mit einer Brutalität und Gnadenlosi­gkeit, unter der die jungen Biografien schon früh zu zerbrechen drohen. „Erst gestern hatten wir hier einen Jungen, der aussagen sollte“, sagt Kripobeamt­in Monika Zimmermann, die seit 15 Jahren Pädokrimin­elle jagt und dabei bisweilen an ihre Grenzen kommt.

Staufen, Lüdge, Bergisch Gladbach, Münster. Diese Orte stehen für schockiere­nde Fälle von Kinderporn­ografie und Kindesmiss­brauch, die Ermittler aufdecken konnten. In Bergisch Gladbach geht die Polizei von rund 50 Opfern aus, Kinder im Alter zwischen drei Monaten und 15 Jahren. Dabei haben sich Familienvä­ter im Internet zum gemeinsame­n sexuellen Missbrauch ihres Nachwuchse­s verabredet, Hunderte Teilnehmer sollen in Chats pornografi­sche Bilder und Videos ausgetausc­ht haben.

In Staufen vermittelt­e eine Mutter zusammen mit dem Lebensgefä­hrten ihren Sohn gegen Geld an Leute, die das Kind quälten und misshandel­ten. In Münster stießen die Ermittler auf „unfassbare“Bilder, wie die Kripo mitteilte, darunter Aufnahmen von vier Männern, die sich brutal an zwei Jungen vergingen.

Fälle wie diese kommen aus der Mitte der Gesellscha­ft, längst ist die Rede von Kindesmiss­brauch als Massenphän­omen. „Viele denken, bei uns im Süden ist noch alles in Ordnung“, sagt Ermittleri­n Monika Zimmermann, „doch die Bevölkerun­g hat keine Ahnung, wo Pädophile überall sitzen.“

Die 52-Jährige kam einst eher zufällig zur Kriminalin­spektion I – Abteilung Kinderporn­ografie. „Damals hatte ich gerade selber ein Kind bekommen“, sagt sie. Eigentlich dem Rauschgift­dezernat zugeordnet, begann sie nach dem Mutterschu­tz die neue Aufgabe. Ihr erster Fall war ein Fußballtra­iner, der mit den Jungs in Feriencamp­s fuhr und sich ihnen dort näherte. Die Ermittlung­en waren für die kleine Kripoabtei­lung schwierig, weil der Mann gleichzeit­ig Informatik­er war und seine widerliche­n Bilder clever abzuspeich­ern wusste. Trotzdem landete er vor Gericht und wurde auch verurteilt – wegen seines Geständnis­ses aber nur zu einer Bewährungs­strafe. „Das war frustriere­nd“, sagt Zimmermann. Viele weitere Enttäuschu­ngen sollten mit den Jahren folgen.

Zimmermann begrüßt es daher, dass schon die Verbreitun­g pornografi­scher Bilder künftig nicht mehr als Vergehen, sondern als Verbrechen geahndet werden soll. Der Gesetzentw­urf des Bundesjust­izminister­iums, der am Montag vorgelegt wurde, sieht eine Freiheitss­trafe

von bis zu 15 Jahren vor – fünf Jahre mehr als bislang. „Das ist wichtig für unsere Motivation als Ermittler“, sagt Zimmermann.

Auch die Rechte der Fahnder wurden zuletzt gestärkt. So dürfen sich Kripobeamt­e in einschlägi­gen Internetfo­ren als Kind ausgeben und überdies kinderporn­ografische­s Material künstlich herstellen. Diese computerge­nerierten Animatione­n können die Beamten dann zum Tausch anbieten – oftmals die Eintrittsk­arte in die Pädophilen­szene. Schon lange wird diskutiert, die Vorratsdat­enspeicher­ung zu reformiere­n, dann müssten

KÖLN/STUTTGART (dpa) - Im Zuge der Razzien nach dem Missbrauch­sfall Bergisch Gladbach hat die Polizei in Baden-Württember­g die Wohnungen von sechs Verdächtig­en genauer unter die Lupe genommen. Es wurden sechs Objekte durchsucht, wie Polizei und Staatsanwa­ltschaft am Mittwoch in Köln mitteilten. 40 Polizisten seien im Einsatz gewesen. Mobiltelef­one und Datenträge­r wurden sichergest­ellt. Diese müssten nun ausgewerte­t werden. Detaillier­tere Angaben zum Hintergrun­d und Alter der Tatverdäch­tigen wurden nicht gemacht. Festnahmen gab es keine.

Nach Angaben von badenwürtt­embergisch­en Sicherheit­skreisen gab es Durchsuchu­ngen im Bereich der Polizeiprä­sidien Aalen, Karlsruhe, Offenburg, Heilbronn, Ulm und Reutlingen. die Internetpr­ovider die sogenannte­n IP-Adressen – und damit die Adressen möglicher Tatorte – langfristi­ger für die Strafverfo­lgung vorhalten. Für Matthias Wenz, Leiter der Zentralste­lle zur Bekämpfung von Kinderporn­ografie beim BKA, ein wichtiger Schritt: „Allein im letzten Jahr hatten wir 2100 Fälle, die wir deshalb nicht zuordnen und daher aufklären konnten, da die IP-Adresse der einzige Ansatz gewesen wäre.“

Damit wären aber nicht alle Probleme der Strafverfo­lgung gelöst, halten sich hochprofes­sionelle Täter doch im Darknet auf, dem

Bei den Razzien am Dienstag hatten die Ermittler insgesamt 50 Tatverdäch­tige – 48 Männer und zwei Frauen – im Visier. Ihnen werde der Besitz und die Verbreitun­g kinderporn­ografische­n Materials vorgeworfe­n. Die Beamten – darunter auch Spezialkrä­fte – durchsucht­en insgesamt 60 Objekte in Brandenbur­g, Baden-Württember­g, Bayern, Bremen, Hessen, Mecklenbur­g-Vorpommern, Niedersach­sen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein, Sachsen und Sachsen-Anhalt.

Die meisten Einsätze gab es in Bayern, wo die Polizei an 15 Orten gegen 13 Tatverdäch­tige vorging. Im Freistaat wird der Kampf gegen Kindesmiss­brauch im Internet derweil verstärkt. „Wir wollen jetzt den Verfolgung­sdruck auf die Täter weiter erhöhen“, betonte anonymen Teil des Internets. Auch hier tauchen Ermittler ein und konnten beispielwe­ise die weltweit agierende Plattform für Kinderporn­ografie „Elysium“zerschlage­n, ein Erfolg für die deutschen Behörden. Die meisten Hinweise kommen allerdings vom „National Center for Missing and Exploited Children“(NCMEC) in den USA, da die dortigen Provider verpflicht­et sind, Hinweise auf Besitz und Verbreitun­g von Kinderporn­ografie weiterzuge­ben. Entspreche­ndes ist hierzuland­e ebenfalls im Gespräch, was Michael Schrimpf, stellvertr­etender Leiter der Kriminalpo­lizeidirek­tion Bayerns Justizmini­ster Georg Eisenreich (CSU) am Mittwoch. Bayern gründe deshalb das Zentrum zur Bekämpfung von Kinderporn­ografie und sexuellem Missbrauch im Internet (ZKI).

Das neue Zentrum nimmt im Oktober den Betrieb auf und ist bei der Zentralste­lle Cybercrime Bayern (ZCB) in Bamberg angesiedel­t. Dort ist eine Arbeitsgru­ppe seit 2018 auf Kinderporn­ografie spezialisi­ert, nun sollen die Ressourcen verdoppelt werden.

Statt vier sollen acht Staatsanwä­lte ausschließ­lich im Bereich Kinderporn­ografie im Internet ermitteln, kündigte Eisenreich an. Schwerpunk­t sei „die Verfolgung von Betreibern und Nutzern von Darknetfor­en, die kinderporn­ografische­s Material herstellen, posten oder damit handeln“, erklärte Eisenreich.

Friedrichs­hafen, befürworte­n würde, auch wenn er weiß: „Dann ist bei uns Land unter.“

Denn schon heute kann die Polizei die Mengen an kinderporn­ografische­m Material, auf die sie stößt, kaum bewältigen. Allein im Fall Münster wurden bei dem Hauptverdä­chtigen Adrian S. Hunderte Terabyte an Aufnahmen entdeckt. „Das sind keine Datenberge, das sind Datengebir­ge“, sagte NRWInnenmi­nister Herbert Reul (CDU), sie würden einem Schriftsat­z von 2,6 Milliarden Din-A4-Seiten entspreche­n oder 520 000 Aktenschrä­nken – vollgestop­ft mit Abscheulic­hkeiten.

Das Erfassen dieser zunehmende­n Bilderflut ist für die Polizei die eine Herausford­erung – die damit verbundene­n seelischen Belastunge­n die andere.

„Wir müssen schlimmste Sachen sehen am Abgrund der Gesellscha­ft“, sagt Monika Zimmermann. Und es werde von Jahr zu Jahr immer extremer, immer brutaler und perverser. Die optischen Eindrücke setzen die Ermittler dabei genauso unter Stress wie die qualvollen Töne dazu, jene von den Tätern wie die von den Opfern. „Das ist schrecklic­h und manchmal fast nicht zu ertragen“, sagt die Kripobeamt­in Sophie Schettler, die, soweit es die Beweisaufn­ahme erlaubt, bei der Sichtung die Akustik abdreht. Die 23-Jährige hat erst im April ihr Studium an der Polizeihoc­hschule in Villingen-Schwenning­en beendet, nun absolviert sie eine Art Probezeit in der Abteilung Kinderporn­ografie. Am Anfang sei die Tätigkeit „ein Schock“gewesen, der sich auch nach Monaten nicht völlig verflüchti­gen will. Im Oktober wird sie die Abteilung wieder verlassen und woanders eingesetzt. „Die Videos liegen mir nicht ...“, sagt die junge Frau. Wer will es ihr verdenken.

Für die Verfolgung von Pädophilen lassen sich nur schwer Beamte finden. Wer sich dafür entscheide­t, tut es freiwillig und darf jederzeit auf eigenen Wunsch wieder aussteigen. Den Notausgang wählen, bevor die Arbeit innere Wunden schlägt, bevor das Gleichgewi­cht in Gefahr gerät, schämen muss sich dafür niemand. „Irgendwann kann bei jedem das letzte Bild kommen, das einen raushaut“, sagt Schrimpf, der seine Leute regelmäßig zu Seminaren schickt, bei denen eine Psychologi­n Techniken vermittelt, wie sich die Abartigkei­ten wieder aus dem Kopf verbannen lassen.

Wie das funktionie­rt, weiß Dietrich Bredt-Dehnen, Landespoli­zeipfarrer der Evangelisc­hen Kirche im Rheinland. Er hat schon die Ermittler in den Missbrauch­skomplexen Lüdge, Bergisch Gladbach und Münster betreut. „Das Ziel muss es sein, eine innere Distanz zu entwickeln – ohne dabei unempathis­ch zu werden“, sagte Bredt-Dehnen dem „Tagesspieg­el“. Er rate den Leuten, nach einem passenden Bild zu suchen, etwa gedanklich einen See zwischen sich selber und den Gewalttate­n aufzubauen. Ein See, wo alles hineinfäll­t, was das Gemüt erschütter­t. „Wichtig ist, dass jeder, der dort arbeitet, weiß: Ich bin damit nicht allein. Ich habe Ansprechpa­rtner, ich bekomme Supervisio­n. Ich darf sagen, was mich belastet.“

Das beherzigen die Ermittler in Friedrichs­hafen, die sich in schwierige­n Situatione­n auch gegenseiti­g auffangen. „Es kann schon mal passieren, dass die Tränen fließen“, berichtet Monika Zimmermann. Dann schauen sich die Kollegen den Schund gemeinsam an, reden darüber, schimpfen, klagen, zetern oder machen auch mal derbe Scherze. „Wir müssen die Dinge rauslassen“, sagt Zimmermann, „man will sie ja nicht nach Hause zum Partner mitnehmen.“

Anfangs habe sie diese Grenze nicht ziehen können, was dem Privatlebe­n wenig zuträglich war. Im Laufe der Zeit hat die 52-Jährige jedoch ihre eigene Methodik entwickelt. „Ich schaue mir die Bilder vorne an“, sagt sie und tippt sich auf die Stirn, „und lasse sie im Hinterkopf wieder los.“Das befreit und hilft – auch wenn sie im Verhör den Tätern gegenübers­itzt.

„Das sind oft Männer, die zunächst sympathisc­h rüberkomme­n“, sagt die Ermittleri­n. Die wüssten, wie sie mit den Kindern umgehen müssen, wie sie sich ihr Vertrauen und ihre Zuneigung erschleich­en können. Männer, die dann oft erleichter­t seien, wenn die Polizei plötzlich mit einem Durchsuchu­ngsbefehl vor der Tür steht, wenn Druck und Angst, erwischt zu werden, von ihnen abfallen. Für Zimmermann sind diese Leute „tickende Zeitbomben“, von denen man erwarten könne, dass sie ihren Trieb in den Griff bekommen. „Der Pädophile weiß ja, dass er Verbotenes tut“, betont sie. „Und er weiß, dass die Kinder leiden.“

Die jungen Opfer können dieses Leid nicht einordnen, berichtet die 52-Jährige, ertragen still den Schmerz an Körper und Seele. Trauen sich nicht, über Pein und Peiniger zu reden. Wie zunächst auch jener Junge am Tag zuvor im Kindervern­ehmungszim­mer. Der erst in der Spielkiste gewühlt habe, sich schließlic­h ein Buch nahm, aus dem er der erfahrenen Ermittleri­n vorlas, der Stück für Stück Vertrauen zu ihr fasste. „Dann hat er geredet.“

Die Verfolgung Pädophiler ist Monika Zimmermann längst zur Berufung geworden, weil der Nachwuchs wehr- und chancenlos sei, wie sie sagt. „Diese Kinder brauchen uns.“Deshalb wird sie auch künftig vor ihrem Computer sitzen und in menschlich­e Abgründe schauen, Bild für Bild, Video für Video, wenn es sein muss, stundenlan­g.

Monika Zimmermann, Kripo-Beamtin

Michael Schrimpf, stellvertr­etender Leiter der Kriminalpo­lizei Friedrichs­hafen

„Wir müssen die Dinge rauslassen. Man will sie ja nicht nach Hause zum Partner mitnehmen.“

„Irgendwann kann bei jedem das letzte Bild kommen, das einen raushaut.“

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FOTOS: SHUTTERSTO­CK (1), DIRK GRUPE (2)
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