Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Prozessauftakt unter Tränen
Verhandlung um Anschlag auf Satirezeitschrift „Charlie Hebdo“beginnt – Präsident Macron verteidigt Recht auf Blasphemie
PARIS - Die Gerichtszeichnungen zeigen elf Männer mit Masken vor dem Mund, bewacht von schwarz vermummten Polizisten. Die Angeklagten müssen sich seit Mittwoch im Prozess um die Anschläge auf die Satirezeitung „Charlie Hebdo“und den jüdischen Supermarkt Hyper Cacher verantworten. Sie sollen die Angreifer mit Waffen und Geld versorgt und sie logistisch unterstützt haben. 49 Tage lang müssen sie vor dem Sondergericht erscheinen, bevor der schon jetzt als „historisch“eingestufte Prozess am 10. November zu Ende geht. Die drei Hauptangeklagten sind allerdings nicht im neuen Justizpalast von Paris vertreten: Zwei von ihnen, die Brüder Belhoucine, sind vermutlich tot. Und die Dritte, die Lebensgefährtin des erschossenen Attentäters Amédy Coulibaly
lebt wahrscheinlich in Syrien.
Aufgewühlt verfolgten zahlreiche Freunde und Angehörige der Toten den Prozessauftakt. Redaktionsleiter Riss versenkte den Kopf in den Händen, als die Namen seiner toten Kollegen verlesen wurden. Die Mutter des getöteten Chefredakteurs verließ Gerichtsreportern zufolge weinend den Gerichtssaal. „Es ist schwierig. Man muss der Justiz Zeit lassen“, kommentierte der frühere „Charlie“-Mitarbeiter Patrick Pelloux, der als einer der Ersten am Anschlagsort gewesen war. Der Notarzt hatte damals Präsident François Hollande
über das Attentat informiert und war zu einer Art Sprecher der Redaktion geworden. Er hoffe, durch den Prozess zu verstehen, wie Franzosen in den Islamismus abgleiten könnten, sagte Pelloux in einem Radiointerview.
In einer Sonderausgabe veröffentlichte „Charlie Hebdo“am Mittwoch noch einmal früher bereits gedruckte Mohammed-Karikaturen, die die Attentäter zu ihren tödlichen Angriffen provoziert hatten. „Das alles deshalb“, lautete der Titel zu den Zeichnungen. „Der Hass, der uns getroffen hat, ist immer noch da, und seit 2015 hatte er Zeit, sich zu verändern, um unbemerkt zu passieren und ohne Lärm seinen erbarmungslosen Kreuzzug fortzusetzen“, schrieb Redaktionsleiter Riss. Doch seine Zeitung werde sich nicht zur Ruhe legen. „Wir werden nie aufgeben.“Präsident Emmanuel Macron verteidigte die erneute Publikation: „In Frankreich gibt es das Recht, gotteslästerlich zu sein, das mit der Gewissensfreiheit verbunden ist“, sagte der Staatschef am Rande eines Besuchs im Libanon.
Laut einer Umfrage, die „Charlie Hebdo“veröffentlichte, unterstützen auch 59 Prozent der Franzosen den Abdruck der Karikaturen. Unter den französischen Muslimen sind allerdings 69 Prozent der Meinung, dass die Zeitung damit einen Fehler gemacht habe. 18 Prozent der Franzosen muslimischen Glaubens verurteilen die Anschläge auch nicht, unter den Jugendlichen sind es sogar 26 Prozent. Der Hashtag „Ich bin nicht Charlie“gehörte am Mittwoch zu den französischsprachigen Trends im Kurznachrichtendienst Twitter. 2015 lautete der Slogan, unter dem Millionen Franzosen für die Meinungsfreiheit auf die Straße gingen, „Ich bin Charlie“.