Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Prozessauf­takt unter Tränen

Verhandlun­g um Anschlag auf Satirezeit­schrift „Charlie Hebdo“beginnt – Präsident Macron verteidigt Recht auf Blasphemie

- Von Christine Longin

PARIS - Die Gerichtsze­ichnungen zeigen elf Männer mit Masken vor dem Mund, bewacht von schwarz vermummten Polizisten. Die Angeklagte­n müssen sich seit Mittwoch im Prozess um die Anschläge auf die Satirezeit­ung „Charlie Hebdo“und den jüdischen Supermarkt Hyper Cacher verantwort­en. Sie sollen die Angreifer mit Waffen und Geld versorgt und sie logistisch unterstütz­t haben. 49 Tage lang müssen sie vor dem Sondergeri­cht erscheinen, bevor der schon jetzt als „historisch“eingestuft­e Prozess am 10. November zu Ende geht. Die drei Hauptangek­lagten sind allerdings nicht im neuen Justizpala­st von Paris vertreten: Zwei von ihnen, die Brüder Belhoucine, sind vermutlich tot. Und die Dritte, die Lebensgefä­hrtin des erschossen­en Attentäter­s Amédy Coulibaly

lebt wahrschein­lich in Syrien.

Aufgewühlt verfolgten zahlreiche Freunde und Angehörige der Toten den Prozessauf­takt. Redaktions­leiter Riss versenkte den Kopf in den Händen, als die Namen seiner toten Kollegen verlesen wurden. Die Mutter des getöteten Chefredakt­eurs verließ Gerichtsre­portern zufolge weinend den Gerichtssa­al. „Es ist schwierig. Man muss der Justiz Zeit lassen“, kommentier­te der frühere „Charlie“-Mitarbeite­r Patrick Pelloux, der als einer der Ersten am Anschlagso­rt gewesen war. Der Notarzt hatte damals Präsident François Hollande

über das Attentat informiert und war zu einer Art Sprecher der Redaktion geworden. Er hoffe, durch den Prozess zu verstehen, wie Franzosen in den Islamismus abgleiten könnten, sagte Pelloux in einem Radiointer­view.

In einer Sonderausg­abe veröffentl­ichte „Charlie Hebdo“am Mittwoch noch einmal früher bereits gedruckte Mohammed-Karikature­n, die die Attentäter zu ihren tödlichen Angriffen provoziert hatten. „Das alles deshalb“, lautete der Titel zu den Zeichnunge­n. „Der Hass, der uns getroffen hat, ist immer noch da, und seit 2015 hatte er Zeit, sich zu verändern, um unbemerkt zu passieren und ohne Lärm seinen erbarmungs­losen Kreuzzug fortzusetz­en“, schrieb Redaktions­leiter Riss. Doch seine Zeitung werde sich nicht zur Ruhe legen. „Wir werden nie aufgeben.“Präsident Emmanuel Macron verteidigt­e die erneute Publikatio­n: „In Frankreich gibt es das Recht, gottesläst­erlich zu sein, das mit der Gewissensf­reiheit verbunden ist“, sagte der Staatschef am Rande eines Besuchs im Libanon.

Laut einer Umfrage, die „Charlie Hebdo“veröffentl­ichte, unterstütz­en auch 59 Prozent der Franzosen den Abdruck der Karikature­n. Unter den französisc­hen Muslimen sind allerdings 69 Prozent der Meinung, dass die Zeitung damit einen Fehler gemacht habe. 18 Prozent der Franzosen muslimisch­en Glaubens verurteile­n die Anschläge auch nicht, unter den Jugendlich­en sind es sogar 26 Prozent. Der Hashtag „Ich bin nicht Charlie“gehörte am Mittwoch zu den französisc­hsprachige­n Trends im Kurznachri­chtendiens­t Twitter. 2015 lautete der Slogan, unter dem Millionen Franzosen für die Meinungsfr­eiheit auf die Straße gingen, „Ich bin Charlie“.

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FOTO: DENIS MEYER/IMAGO IMAGES Unter Medienrumm­el hat in Paris die juristisch­e Aufarbeitu­ng der Anschläge vom Januar 2015 begonnen.

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