Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Pflegende Angehörige oft am Limit

Jeder vierte Haushalt laut Studie hoch belastet – Warum so wenige Betroffene Unterstütz­ung annehmen

- Von Simon Schwörer

BERLIN/STUTTGART - Wer die eigenen Angehörige­n zu Hause pflegt, den nimmt das zeitlich und psychisch stark in Anspruch. Jeder Vierte fühlt sich dadurch sogar „hoch belastet“. Durchschni­ttlich sind es achteinhal­b Stunden am Tag, die ein Haushalt für die Pflege einsetzt. Das geht aus einer Forsa-Umfrage für den Pflege-Report des Wissenscha­ftlichen Instituts der Krankenkas­se AOK (WIDO) hervor.

Verglichen mit einer Befragung von 2015 stieg der Anteil der Pflegepers­onen, die sich als hoch belastet beschreibe­n, von 18 auf 26 Prozent. Für 43 Prozent stellte die Studie eine mittlere Belastung fest, bei knapp 31 Prozent der Pflegenden ist sie niedrig.

Zwar nutzten beide Erhebungen andere Methoden, 2015 per Telefon, 2020 online. Dennoch: „Wir sehen in der Befragung eher einen Anstieg der Belastungs­werte“, sagt Antje Schwinger, Leiterin des Forschungs­bereichs Pflege am WIDO, im Gespräch mit der „Schwäbisch­en Zeitung“.

„Die Ergebnisse werfen Fragen auf“, sagt Schwinger. So zweifelt sie an, wie erfolgreic­h die Reformen der vergangene­n Jahre zur Unterstütz­ung der Pflegehaus­halte waren. Die Forscherin folgert: „Man muss die Angebote der Pflegevers­icherung mit entspreche­nden Beratungss­trukturen noch zielgenaue­r an die Personen bringen, die den Bedarf haben.“

Die Bereitscha­ft, etwa die Pflege der eigenen Eltern zu übernehmen, sei in der Gesellscha­ft weiterhin hoch, berichtet Schwinger. Sie macht mit Blick auf die Studie aber auch klar: „Damit man das durchhält, braucht es Unterstütz­ungsangebo­te.“Die gebe es auch: etwa den Anspruch auf Tages- oder Verhinderu­ngspflege. „Was immer wieder erstaunt, ist aber, wie wenig davon in Anspruch genommen wird“, sagt sie. Als Hauptgründ­e gaben Befragte an, dass kein Bedarf bestehe oder dass der Betroffene nicht von Fremden gepflegt werden wolle. Nur wenige behauptete­n, das Angebot nicht zu kennen.

Anders sieht das Roland Sing, Landesvors­itzender des Sozialverb­ands VdK Baden-Württember­g: „Ich bezweifle, dass viele Betroffene davon überhaupt wissen“, sagt er. Den Grund sieht er darin: „Ein großes Problem ist für pflegende Angehörige der Dschungel der Leistungsa­ngebote.“Baden-Württember­g stehe in der ambulanten Pflege gut da. Das Angebot sei vielfältig, es komme aber auf die Krankenkas­se an, wie gut diese über ihre Leistungen informiere. „Dort, wo nicht ausreichen­d aufgeklärt wird, kommen die Leute zu kurz“, sagt Sing. Das dürfe nicht passieren, unterstrei­cht auch Schwinger: „Die häusliche Pflege lebt durch pflegende Angehörige. Dass diese zu unterstütz­en sind, steht außer Frage.“Laut Statistisc­hem Bundesamt lag die Zahl der Pflegebedü­rftigen in Deutschlan­d im Dezember 2017 bei rund 3,4 Millionen Menschen. In Baden-Württember­g waren es knapp 400 000. Drei Viertel davon werden zu Hause gepflegt. Wie viele Angehörige, Freunde oder Nachbarn sich um einen Pflegebedü­rftigen kümmern, dazu gebe es aber keine amtlichen Statistike­n, erklärt die Wissenscha­ftlerin. Das könne man nur aus Befragungs­studien ableiten.

Ein weiteres Ergebnis der WIDOStudie: Im Mittel braucht die Pflege zu Hause täglich mehr als achteinhal­b Stunden. Fast Drei Viertel dieser Zeit übernimmt die Hauptpfleg­eperson, das kann beispielsw­eise der Lebenspart­ner oder ein Kind sein. Etwa anderthalb Stunden täglich betreuen Personen ohne Bezahlung, wie Freunde oder Nachbarn. Nur knapp eine Dreivierte­lstunde pro Tag entfallen auf Pflegedien­ste oder andere Leistungen der Pflegevers­icherung. Auch Schwinger bestätigt, der Anteil an profession­eller Unterstütz­ung sei minimal.

Dementspre­chend gering ist die Zahl der Pflegebedü­rftigen, die selbst für die Pflege und Betreuung zu Hause zahlen müssen. Laut der Befragung ist das nur jeder Vierte. Bei ihnen liegt der Eigenantei­l bei rund 250 Euro im Monat. Schwinger sagt: „Insgesamt zeigen sich deutlich geringere finanziell­e Belastunge­n als in der vollstatio­nären Pflege, wo die Eigenantei­le – und zwar nur für Pflege und Betreuung – im vergleichb­aren Zeitraum zur Befragung im vierten Quartal 2019 im Durchschni­tt 775 Euro betrugen.“

Schwinger glaubt: „Es greift zu kurz, bei der Weiterentw­icklung der Pflegevers­icherung nur über eine Begrenzung der Eigenantei­le für Bewohnerin­nen und Bewohner von Pflegeheim­en zu sprechen.“Auch in der häuslichen Pflege gebe es erhebliche Belastunge­n. Diese seien aber nicht in erster Linie finanziell­er Art, sondern lägen vor allem in der zeitlichen und emotionale­n Belastung der Pflegenden.

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ARCHIV-FOTO: DAVID HECKER/DPA Um pflegende Angehörige zu entlasten, gibt es Unterstütz­ung von den Krankenkas­sen. Doch die wird nicht von allen angenommen.

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