Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Pflegende Angehörige oft am Limit
Jeder vierte Haushalt laut Studie hoch belastet – Warum so wenige Betroffene Unterstützung annehmen
BERLIN/STUTTGART - Wer die eigenen Angehörigen zu Hause pflegt, den nimmt das zeitlich und psychisch stark in Anspruch. Jeder Vierte fühlt sich dadurch sogar „hoch belastet“. Durchschnittlich sind es achteinhalb Stunden am Tag, die ein Haushalt für die Pflege einsetzt. Das geht aus einer Forsa-Umfrage für den Pflege-Report des Wissenschaftlichen Instituts der Krankenkasse AOK (WIDO) hervor.
Verglichen mit einer Befragung von 2015 stieg der Anteil der Pflegepersonen, die sich als hoch belastet beschreiben, von 18 auf 26 Prozent. Für 43 Prozent stellte die Studie eine mittlere Belastung fest, bei knapp 31 Prozent der Pflegenden ist sie niedrig.
Zwar nutzten beide Erhebungen andere Methoden, 2015 per Telefon, 2020 online. Dennoch: „Wir sehen in der Befragung eher einen Anstieg der Belastungswerte“, sagt Antje Schwinger, Leiterin des Forschungsbereichs Pflege am WIDO, im Gespräch mit der „Schwäbischen Zeitung“.
„Die Ergebnisse werfen Fragen auf“, sagt Schwinger. So zweifelt sie an, wie erfolgreich die Reformen der vergangenen Jahre zur Unterstützung der Pflegehaushalte waren. Die Forscherin folgert: „Man muss die Angebote der Pflegeversicherung mit entsprechenden Beratungsstrukturen noch zielgenauer an die Personen bringen, die den Bedarf haben.“
Die Bereitschaft, etwa die Pflege der eigenen Eltern zu übernehmen, sei in der Gesellschaft weiterhin hoch, berichtet Schwinger. Sie macht mit Blick auf die Studie aber auch klar: „Damit man das durchhält, braucht es Unterstützungsangebote.“Die gebe es auch: etwa den Anspruch auf Tages- oder Verhinderungspflege. „Was immer wieder erstaunt, ist aber, wie wenig davon in Anspruch genommen wird“, sagt sie. Als Hauptgründe gaben Befragte an, dass kein Bedarf bestehe oder dass der Betroffene nicht von Fremden gepflegt werden wolle. Nur wenige behaupteten, das Angebot nicht zu kennen.
Anders sieht das Roland Sing, Landesvorsitzender des Sozialverbands VdK Baden-Württemberg: „Ich bezweifle, dass viele Betroffene davon überhaupt wissen“, sagt er. Den Grund sieht er darin: „Ein großes Problem ist für pflegende Angehörige der Dschungel der Leistungsangebote.“Baden-Württemberg stehe in der ambulanten Pflege gut da. Das Angebot sei vielfältig, es komme aber auf die Krankenkasse an, wie gut diese über ihre Leistungen informiere. „Dort, wo nicht ausreichend aufgeklärt wird, kommen die Leute zu kurz“, sagt Sing. Das dürfe nicht passieren, unterstreicht auch Schwinger: „Die häusliche Pflege lebt durch pflegende Angehörige. Dass diese zu unterstützen sind, steht außer Frage.“Laut Statistischem Bundesamt lag die Zahl der Pflegebedürftigen in Deutschland im Dezember 2017 bei rund 3,4 Millionen Menschen. In Baden-Württemberg waren es knapp 400 000. Drei Viertel davon werden zu Hause gepflegt. Wie viele Angehörige, Freunde oder Nachbarn sich um einen Pflegebedürftigen kümmern, dazu gebe es aber keine amtlichen Statistiken, erklärt die Wissenschaftlerin. Das könne man nur aus Befragungsstudien ableiten.
Ein weiteres Ergebnis der WIDOStudie: Im Mittel braucht die Pflege zu Hause täglich mehr als achteinhalb Stunden. Fast Drei Viertel dieser Zeit übernimmt die Hauptpflegeperson, das kann beispielsweise der Lebenspartner oder ein Kind sein. Etwa anderthalb Stunden täglich betreuen Personen ohne Bezahlung, wie Freunde oder Nachbarn. Nur knapp eine Dreiviertelstunde pro Tag entfallen auf Pflegedienste oder andere Leistungen der Pflegeversicherung. Auch Schwinger bestätigt, der Anteil an professioneller Unterstützung sei minimal.
Dementsprechend gering ist die Zahl der Pflegebedürftigen, die selbst für die Pflege und Betreuung zu Hause zahlen müssen. Laut der Befragung ist das nur jeder Vierte. Bei ihnen liegt der Eigenanteil bei rund 250 Euro im Monat. Schwinger sagt: „Insgesamt zeigen sich deutlich geringere finanzielle Belastungen als in der vollstationären Pflege, wo die Eigenanteile – und zwar nur für Pflege und Betreuung – im vergleichbaren Zeitraum zur Befragung im vierten Quartal 2019 im Durchschnitt 775 Euro betrugen.“
Schwinger glaubt: „Es greift zu kurz, bei der Weiterentwicklung der Pflegeversicherung nur über eine Begrenzung der Eigenanteile für Bewohnerinnen und Bewohner von Pflegeheimen zu sprechen.“Auch in der häuslichen Pflege gebe es erhebliche Belastungen. Diese seien aber nicht in erster Linie finanzieller Art, sondern lägen vor allem in der zeitlichen und emotionalen Belastung der Pflegenden.