Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Merkel spricht im Fall Nawalny von „versuchtem Giftmord“
Kanzlerin kündigt „angemessene“Reaktion an – Auswärtiges Amt bestellt russischen Botschafter ein
BERLIN/MOSKAU - Dieses Untersuchungsergebnis aus einem SpezialLabor der Bundeswehr wird die Beziehungen westlicher Staaten zu Russland erschüttern: Der russische Regierungskritiker Alexej Nawalny soll mit dem chemischen Nervenkampfstoff Nowitschok vergiftet worden sein. Das sieht die Bundesregierung nun als „zweifelsfrei“erwiesen an und hat die russische Regierung eindringlich zur Aufklärung des Falls aufgefordert. „Es stellen sich jetzt sehr schwerwiegende Fragen, die nur die russische Regierung beantworten kann und beantworten muss“, sagte Kanzlerin Angela Merkel (CDU) am Mittwoch in Berlin. Sie kündigte an, mit den Verbündeten über eine „angemessene“Reaktion zu beraten.
Merkel wählte außerordentlich klare Worte zum Fall Nawalny und machte ihre persönliche Betroffenheit deutlich. „Es sind bestürzende Informationen über den versuchten Giftmord an einem der führenden Oppositionellen Russlands“, sagte sie. „Er sollte zum Schweigen gebracht werden.“Das Auswärtige Amt bestellte den russischen Botschafter Sergej Netschajew ein, um Russland dazu aufzufordern, „vollumfänglich und mit voller Transparenz“aufzuklären“. Russland müsse die Verantwortlichen ermitteln und zur Rechenschaft ziehen, sagte Außenminister Heiko Maas (SPD). Wie die Reaktion ausfallen werde, „werden wir auch im Lichte dessen entscheiden, wie Russland sich verhält“.
Vor zwei Jahren war der russische Ex-Agenten Sergej Skripal und seine Tochter ebenfalls mit Nowitschok vergiftet worden. Daraufhin hatten zahlreiche westliche Staaten russische Diplomaten ausgewiesen. Auch diesmal strebt die Bundesregierung ein abgestimmtes Vorgehen der westlichen Verbündeten an.
Merkel sprach auch mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier über den Fall, was ebenfalls zeigt, wie hoch sie die Bedeutung einschätzt. Die Bundesregierung informierte zudem die Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OVCW) über den Labor-Befund. Der Konvention für die Ächtung von Chemiewaffen ist auch Russland beigetreten.
Die Charité teilte am Mittwoch mit, der Gesundheitszustand von Nawalny, der am 20. August auf einem Flug in seiner Heimat plötzlich ins Koma gefallen war, sei weiter ernst. Die Symptomatik der nachgewiesenen Vergiftung sei zwar zunehmend rückläufig. Nawalny werde aber weiterhin auf einer Intensivstation behandelt und künstlich beatmet. Mit einem längeren Krankheitsverlauf sei zu rechnen. Langzeitfolgen der schweren Vergiftung seien weiterhin nicht auszuschließen.
Der Kreml beschwerte sich am Mittwoch, nicht sofort von den deutschen Behörden über die neuen Erkenntnisse informiert worden zu sein. „Nein, wir sind davon nicht in Kenntnis gesetzt worden“, sagte der
Sprecher von Präsident Wladimir Putin, Dmitri Peskow, der Staatsagentur Tass. Nicht näher genannte Sicherheitskreise behaupteten weiter, mehrere Labors in Russland hätten Proben untersucht und keine Giftstoffe entdeckt. Russische Agenturen zitierten sogar NowitschokEntwickler, dass Nawalny einen echten Anschlag mit dem Nervengift mit Sicherheit nicht überlebt hätte. „Dann wäre er schon längst auf dem Friedhof“, sagte Leonid Rink, der zu Sowjetzeiten an der Entwicklung beteiligt war.
In der deutschen Politik herrschte Empörung über den Vorfall. „Es ist schockierend, dass das Putin-Regime offenbar bereit ist, zur Bekämpfung der Opposition über Leichen zu gehen“, sagte der außenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Nils Schmid. Es sei jetzt eine entschlossene Reaktion der EU erforderlich. „Die EU muss endlich einen personenbezogenen Sanktionsmechanismus bei schweren Menschenrechtsverletzungen einführen, damit die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden.“