Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Mehr Luxus wagen
Nach Umsatzeinbrüchen und Milliardenverlusten setzt Daimler auf die „Factory 56“– und die neue S-Klasse
STUTTGART - Wenige Zentimeter vor Jörg Burzer stoppt das selbstfahrende mit einem Regal voller Reifen beladene Podest. „Keine Sorge, der hält an“, sagt der Mercedes-Produktionschef – und als der Manager seinen Fuß aus der Fahrlinie zieht, fährt das blaue Fahrzeug mit den kleinen Rollen und den fast unsichtbaren Kameras wieder an. Es blinkt ein paar Mal rot auf und entschwindet in den Gängen der „Factory 56“.
In der neuen Produktionshalle mit dem englischen Namen, der einfach für die Halle mit der Nummer 56 steht, lässt der Autohersteller Daimler mehr als 400 solcher fahrerlosen Transportsysteme herumfahren. Sie sind autonom unterwegs und kommunizieren untereinander, ihre Aufgabe: Autokomponenten von A nach B bringen, damit die sogenannte TecLine arbeitet. Hier werden Daimler-Fahrgestelle von größeren Fahrsystemen in die richtige Position gebracht, später heben blaue Haken das halbfertige Auto in die Höhe. Klassische Fließbänder gibt es hier nicht mehr. Die Produktionslinien sind flexibel einsetzbar, je nachdem was der Kunde an und in seinem Auto wünscht. Bestes Beispiel: das Montieren eines Schiebedachs. „In einer normalen Produktionsstraße müssen alle Autos durch diese Stationen fahren, durch die aber eigentlich gar nicht alle Autos müssen“, erklärt Burzer. Nicht mehr das Auto bewegt sich wie im klassischen Fließbetrieb hin und her, sondern die Transportsysteme selbst.
In der futuristischen Fabrik will Daimler künftig den Edelwagen Maybach, die Fahrzeuge der Elektromarke EQ – aber vor allem die SKlasse, das Luxus-Flaggschiff und wohl prestigeträchtigste Auto des baden-württembergischen Traditionsunternehmens produzieren. Das neue Modell hat Vorstandschef Ola Källenius am gleichen Tag wie die Zukunftsfabrik vorgestellt.
In Kombination sollen „Factory 56“und neue S-Klasse der lang ersehnte Befreiungsschlag sein, den der Konzern nach vergangenen Monaten so dringend braucht. Wochenlang standen wegen der Corona-Pandemie die Bänder in Deutschland und Europa still. Hinzu kam ein dramatischer Umsatzeinbruch, die Nachfrage ging zurück. Im ersten Halbjahr musste der Konzern einen Verlust von 1,7 Milliarden Euro verkraften.
Die Pandemie habe dem Unternehmen einiges abverlangt und gleichzeitig viel gelehrt. Flexibilität sei jetzt ein wichtiges Thema. Globale Lieferketten müssen laut Källenius bei Daimler neu gedacht und organisiert werden. Rund 730 Millionen Euro hat das Unternehmen deshalb in die „Factory 56“gesteckt. Des Resultat:
Die dortige Produktion wird nach Unternehmensangaben um 25 Prozent effizienter. Außerdem soll sie CO2-neutral sein.
Die Maschinen und Anlagen in der neuen Produktionshalle sind so miteinander vernetzt, dass sie miteinander kommunizieren können. An jeder Station, an der das Auto ist, weiß das System, wo es schon war und wo noch Teile fehlen. Mitarbeiter müssen so nicht mehr nach Teilen suchen, weil die fahrerlosen Transportsysteme die richtigen Teile gut abgestimmt an den richtigen Platz bringen. Dafür nutzt Daimler ein eigenes 5G-Mobilfunknetz. Der Vorteil: Die Produktion soll digitaler, flexibler und energieeffizienter sein.
Aber nicht nur die Fabrik – vor allem auch die neue S-Klasse muss ein Erfolg werden, so sehen es die Aktionäre, so sehen es die Analysten – und auch Källenius selbst. „Bei Kindern darf man keine Lieblinge haben, bei Autos geht das“, sagt der DaimlerChef fast liebevoll über den neuen, alten Hoffnungsträger des Konzerns.
Vor wenigen Wochen hatte der Schwede den Kern seiner Strategie enthüllt, sie basiert auf dem Thema Luxus – und damit auf der S-Klasse. „Wir wollen zurück zu unserem Kern als Hersteller von modernen Luxusfahrzeugen. Die Zukunft von Mercedes liegt eher am oberen Ende der Fahrzeugsegmente“, hatte Källenius im Interview mit dem „Handelsblatt“gesagt – und bei der Neuausrichtung auf die Strategien des Luxusgüterkonzerns LVMH verwiesen. Unter anderem will Daimler die Marken Maybach oder AMG ausbauen
– und dabei den Fokus auf die S-Klasse nicht verlieren.
Alle sieben Jahre gibt es ein neues Modell, es ist Technologieträger für die kommenden Baureihen im Unternehmen. Was zuerst in der S-Klasse eingebaut und dort Standard wird, kommt dann auch in den anderen Modellen und – so die selbstbewusste Hoffnung bei Daimler – irgendwann in der gesamten Autowelt zum Einsatz. Die S-Klasse als Trendsetter und als „Versprechen für den Luxus“, wie es am Mittwoch in Stuttgart immer wieder heißt. Das Auto wird in einem 20-minütigen Film vorgestellt, Stars wie Lewis Hamilton oder Alicia Keys testen das neue Auto nach ihren Bedürfnissen. Das intelligente Auto erkennt seine Insassen, stellt Licht und Sitze passend auf die Bedürfnisse der Fahrenden ein. Grund dafür sind Algorithmen, die ihre Bedienwünsche interpretieren. Kameras überwachen den Innenraum, insgesamt 90 Steuergeräte sind integriert. Wenn der Fahrer über die Schulter nach hinten in Richtung Heckscheibe blickt, wird das Sonnenrollo vor der Heckscheibe geöffnet. Die Mitfahrer können sich derweil bei einem Film vor ihrem eigenen Bildschirm, bei einer Massage oder bei Musik im 4-D-Sound entspannen. 2021 soll es einen Fahrpiloten geben, der im Stop-and-go-Verkehr selbstständig fahren kann. Damit kann dann auch der Fahrer einen Film schauen, während das Auto selbstständig lenkt, stoppt und fährt.
Dass nicht nur die S-Klasse, sondern künftig auch die Modelle der Marke EQ in der „Factory 56“entstehen sollen, ist kein Zufall, denn mit dem EQS will Daimler das LuxusKonzept der S-Klasse auch in die elektromobile Zukunft führen. Der Edel-Stromer soll die S-Klasse nicht ersetzen, sondern auf die Tesla-Konkurrenz aus den USA reagieren. Könnte der EQS trotzdem ein Rivale für die eigene S-Klasse sein und das Flaggschiff angreifen? „Wir haben zwei Architekturen, weil wir überzeugt sind, dass wir beides brauchen“, sagt Jürgen Weissinger, ChefIngenieur der S-Klasse. Das Unternehmen wisse nicht, wie sich die Elektromobilität in den nächsten Jahren weiterentwickeln werde. Außerdem bestehe für Autos mit Sechs-Zylinder-Motor nach wie vor ein großer Bedarf, da ist sich Weissinger sicher.
Das „Herz unserer Marke“, so hat Daimler Ola Källenius die S-Klasse am Mittwoch genannt. Das Herz von Daimler und die Überlebensversicherung des Konzerns. Denn je luxuriöser das Modell, desto mehr ist an jedem Fahrzeug zu verdienen. Wie viel Daimler an jeder S-Klasse verdient, wollte der Schwede zwar nicht sagen, aber klar ist: Jede verkaufte SKlasse hilft dem Konzern, die Krisenmonate hinter sich zu lassen.