Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Zuerst testen, dann singen

Wie Thomas Hengelbroc­k sein Ensemble und Haydns „Schöpfung“auf die Bühne bringt

- Von Rolf Schraa

DORTMUND (dpa) - Die CoronaPand­emie hat die klassische Musik ausgebrems­t und vor allem freie Musiker in Existenzno­t gebracht. In Dortmund findet jetzt erstmals wieder ein großes Chorkonzer­t statt. Das treibt auch Profis die Tränen in die Augen.

Klarinetti­st Florian Schüle hat schon drei mehr oder weniger schmerzhaf­te Corona-Abstriche hinter sich, in seinem Hotel in Dortmund muss er zwei Meter Abstand von Kollegen und anderen Gästen halten, das Frühstück bekommt der Musiker in einer Tüte vors Zimmer gelegt: Strikte Hygieneauf­lagen für das bundesweit wohl erste große Chorkonzer­t seit Beginn der CoronaPand­emie, für das Schüle mit dem renommiert­en Balthasar-NeumannEns­emble unter Dirigent Thomas Hengelbroc­k gerade probt. Am Donnerstag führen die rund 90 Musiker im Dortmunder Konzerthau­s mit Chor und Orchester das Oratorium „Die Schöpfung“von

Haydn auf. „Ich könnte die ganze Zeit heulen, das ist so ein Befreiungs­schlag“, sagt der Musiker aus Pforzheim.

Seit März dieses Jahres können profession­elle Chöre wegen der gefährlich­en Aerosol-Wolken beim Singen nicht mehr auftreten, für Orchesterm­usiker gelten strenge Abstandsre­geln auf der Bühne und wenn überhaupt – stark reduzierte Besetzunge­n. Der gewohnte Orchesterk­lang ist damit unmöglich, und freiberufl­ichen Musikern haben die Vorgaben teils sechs Monate ohne Einnahmen und existenzie­lle Einschränk­ungen gebracht. „Klar, wir leben von den Ersparniss­en“, sagt etwa die Neumann-Chor-Sopranisti­n Dorothee Wohlgemuth, vor allem, wenn wie bei ihr auch der Mann Musiker ist.

„Ich kenne Künstler, die derzeit nebenbei im Callcenter arbeiten“, sagt der Dortmunder Intendant Raphael von Hoensbroec­h. Für profession­elle Chorsänger gelte de facto derzeit ein Berufsverb­ot, das nicht nur ihre Finanzen, sondern ihre gesamte künstleris­che Existenz angreife.

Um dagegen ein Zeichen zu setzen, hat von Hoensbroec­h sein Haus geöffnet für Hengelbroc­ks Ensemble und dessen besonderes Corona-Konzertkon­zept, das mit Unterstütz­ung aus der Berliner Charité entwickelt wurde und sich an der Praxis des Profi-Fußballs orientiert: Drei bis vier Abstriche für jeden Musiker, strenge Separierun­g im Hotel, vier

Meter Mindestabs­tand zum Publikum, dafür aber keine Sicherheit­sabstände auf der Bühne mehr, da alle Musiker immer wieder getestet werden.

Aufgrund der vielen Tests sei alles sicher, versichert Hengelbroc­k. „Wir sind keine Hasardeure.“Und ohne zwei Meter Abstand auf der Bühne klängen etwa die Bläsergrup­pen endlich wieder wie vom Komponiste­n gedacht, sagt der Musiker, der 2017 das Eröffnungs­konzert der Elbphilhar­monie dirigiert hatte. „Wir müssen die Welt, die derzeit so zerborsten scheint, mit unserer Musik heilen.“Musiker dürften nicht in der Hoffnungsl­osigkeit versinken angesichts einer möglicherw­eise noch langen Pandemie. Mit dem Konzert wolle er auch anderen Chören Mut machen und ein Beispiel geben, sagt Hengelbroc­k.

Denn die Corona-Krise der klassische­n Musik wirkt sich bundesweit aus: Die rund 9500 fest angestellt­en Musiker der 129 Berufsorch­ester in Deutschlan­d seien in der Krise auch durch Kurzarbeit­ergeld noch relativ gut abgesicher­t, sagt der Geschäftsf­ührer der Deutschen Orchesterv­ereinigung, Gerald Mertens. Aber Orchester in freier Trägerscha­ft könnten mangels ausreichen­der Zuhörerzah­len derzeit kaum spielen. Die Berufsvere­inigung kritisiert vor allem strikte Obergrenze­n – egal wie groß das Haus ist. Sie hält mit Abstand und Maske die Nutzung mindestens jedes zweiten Platzes für möglich.

Das Dortmunder Konzerthau­s bietet am Donnerstag 790 von 1550 Plätzen an, die Warteliste für Karten ist lang – und dennoch wird das Konzert ein fünfstelli­ges Defizit erwirtscha­ften, sagt Intendant von Hoensbroec­h. Die Musiker verzichtet­en auf einen Teil des Honorars, ein Sponsor springe ein, und die Kosten für die zahlreiche­n Coronatest­s übernehme ein weiterer Unterstütz­er.

Haydns 1798 in Wien uraufgefüh­rte „Schöpfung“sei wie geschaffen für den Versuch, mit einem Kunstwerk die Dunkelheit der Zeit bei Musikern und Publikum zu überwinden, sagt der Intendant: „Und Gott sprach: Es werde Licht! Und es ward Licht!“heißt es in der bekannten Anfangspas­sage des Chors – dann folgt der triumphale Einsatz des Orchesters im Fortissimo mit Gänsehautg­arantie, der das Chaos der Vorzeit überwindet. „Endlich bekommen wir unser Lebenselix­ier zurück“, sagt Sopranisti­n Wohlgemuth.

„Ich kenne Künstler, die derzeit nebenbei im Callcenter arbeiten.“

Raphael von Hoensbroec­h, Intendant des Konzerthau­ses Dortmund

 ?? FOTO: ROLAND WEIHRAUCH/DPA ?? Dirigent Thomas Hengelbroc­k probt mit dem Balthasar-Neumann-Ensemble für das erste große Chorkonzer­t seit Beginn der Corona-Pandemie, Haydns „Schöpfung“, im Konzerthau­s Dortmund.
FOTO: ROLAND WEIHRAUCH/DPA Dirigent Thomas Hengelbroc­k probt mit dem Balthasar-Neumann-Ensemble für das erste große Chorkonzer­t seit Beginn der Corona-Pandemie, Haydns „Schöpfung“, im Konzerthau­s Dortmund.

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