Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Neues Baugebiet: Vorfahrt für Radler und Fußgänger
Warum sich der Baustart auf dem Rinker-Areal verschiebt – Ökologie wird großgeschrieben
RAVENSBURG - Momentan liegt das mehr als drei Hektar große RinkerAreal im Osten Ravensburgs da „wie eine große Wunde“, findet Ravensburgs Baubürgermeister Dirk Bastin. Die ehemaligen Fabrikhallen sind abgerissen, die Schutthaufen zum größten Teil weggeräumt – auf dem Gelände sollen rund 300 Wohnungen gebaut werden. Doch momentan stockt das Mammutprojekt. Das hat unterschiedliche Gründe.
Dass aus zwei Jahren Planung mittlerweile vier geworden sind und sich der Baubeginn um rund zwei Jahre auf den Herbst 2021 verschiebt, liegt unter anderem daran, dass die zahlreichen beteiligten Planer coronabedingt auf andere Kommunikationsformen umstellen mussten, wie Bastin ausführt. Es liegt aber vor allem daran, dass auf dem RinkerAreal ziemlich viel Innovatives entsteht. Für Ingo Traub – neben Joachim Nägele einer der beiden Projektleiter des Bauträgers H2R, zu dem sich die Firmen Reisch und Rhomberg zusammengeschlossen haben –, ist es eine Herausforderung, den „neuen kleinen Stadtteil“so zu konzipieren, dass dieser „langfristig funktioniert“.
Da ist zunächst der Mix: Im Rinker-Areal sollen sämtliche Bevölkerungsgruppen möglichst harmonisch zusammenleben. Studenten, Azubis oder Pendler könnten beispielsweise eines der 35 ab 28 Quadratmeter kleinen Mikro-Apartments beziehen – und würden dann im selben Block wohnen wie Senioren. Für ältere Menschen wiederum werden unterschiedliche Varianten vorgehalten: Neben 15 Tagespflegeplätzen können zwölf Menschen in einer Pflege-WG unterkommen. Zudem wird es Seniorenwohnen mit Service (sprich: eine 24-Stunden-Erreichbarkeit, gekoppelt mit Grundund Wahlleistungen) sowie einen Betreuungs-Stützpunkt für einen ambulanten Pflegedienst im Quartier geben. Letzterer betreut alte Menschen in ihrer eigenen Wohnung. Hintergrund: Man soll im Rinker-Areal quasi entspannt alt werden können – und sich bei Bedarf passgenaue Unterstützung dazuholen können. Partner für diesen Service ist die Brunderhaus-Diakonie, die auch schon auf dem von Reisch erstellten Bezner-Areal, das inzwischen Mühlenviertel heißt ein Café und eine Behindertenwerkstatt betreibt.
Damit sich die Bewohner mit ihrem neuen Zuhause identifizieren, ist in dem Haus am Quartiereingang ein Gemeinschaftsraum als Treffpunkt geplant. Auch Dinge wie „Urban Gardening“sollen für Zusammenhalt sorgen: Wenn die Stadt es genehmigt, könnte Traub sich vorstellen, dass man auf dem rund 1000 Quadratmeter großen Dach desan der Rinkerstraße gelegenen Gebäudes nicht nur Gemüse anbaut, sondern dort auch Hainbuchenhecken pflanzt. Die können nämlich der zunehmenden Klimaerwärmung entgegenwirken. Weil den Bauherren die Umwelt am Herzen liegt, wurde die Anzahl der Mehrfamilienhäuser im Übrigen reduziert – dafür gibt es mehr Grünflächen (die „Schwäbische Zeitung“berichtete). Ein Umstand, den der Ravensburger Gemeinderat zwar gelobt, der aber auch ein halbes Jahr Zeit gekostet hat. Da der zweite Erschließungweg des neuen Wohngebiets über die Holbeinstraße gestrichen wurde, mussten die Planer aufs Neue ran, wie Traub erläutert.
Weiterer wichtiger Baustein in Sachen Ökologie ist das Thema Mobilität. Da ist die H2R GmbH & Co. KG Vorreiter mit ihrem Konzept. Sie will nämlich so viele Autostellplätze wie möglich einsparen – und das
Geld stattdessen in E-Lastenräder, Fahrradanhänger inklusive Adapter und zudem in rund 600 Abstellplätze für private Drahtesel und drei CarSharing-Stellplätze stecken. Eine am Eingang des Viertels angesiedelte Paketstation soll dafür sorgen, dass nicht ständig Kurierdienste durchs Wohngebiet kurven.
Um den öffentlichen Nahverkehr so attraktiv wie möglich zu machen, baut H2R darüber hinaus gemeinsam mit der Stadt Ravensburg zwei Bushaltestellen und eine Fußgängerbedarfsampel in der Wangener Straße. Auch eine Fahrradwerkstatt soll auf dem Rinker-Areal entstehen. Allerdings räumt Traub ein: „Wir sind darauf angewiesen, dass die Bewohner mitziehen – das ist für uns noch Neuland.“Am Ende ließen sich unterschiedliche Dienste über eine quartierspezifische App auf dem Handy organisieren. Beispielsweise könnte man sich darüber ein Lastenrad reservieren. Ob sich künftig zudem noch ein Quartiermanager um die Belange der gesamten östlichen Vorstadt kümmert – dazu laufen derzeit Gespräche mit der Stadtverwaltung.
Die Stadt wird sich im Übrigen an den Kosten für die Linksabbiegespur beteiligen, die stadtauswärts von der
Wangener Straße ins Wohngebiet führen soll. Um dafür und für die Bushaltestelle auf dieser Straßenseite Platz zu schaffen, wurden Ende Februar am Hang eine Menge Bäume gefällt. Man wolle aber entsprechend nachpflanzen, versichert Traub. Der ökologische Aspekt spielt auch bei der Gestaltung des Platzes am Quartiereingang, der das neue Wohngebiet mit der östlichen Vorstadt verbinden soll, eine Hauptrolle. Hier sollen nämlich nicht Autos, sondern Radler und Fußgänger Vorrang haben. Traub möchte die Zahl der Stellplätze vor der dort angesiedelten Kindertagesstätte auf drei begrenzen. „Wir setzen auf ein Umdenken“, sagt er. Und hofft, dass viele Eltern ihre Sprösslinge nicht mit dem Auto bringen werden.
Nicht nur im Zusammenhang mit der viergruppigen Kita, die das Montessori-Kinderhaus betreiben und die später in den Besitz der Stadt Ravensburg übergehen wird, müssen „viele anspruchsvolle, komplexe und belastbare Verträge“festgezurrt werden, erläutert Dirk Bastin. „All das braucht Zeit“, erklärt er den Verzug des Mammutbauvorhabens, in das H2R insgesamt 100 Millionen Euro steckt. Und das für die Stadt laut Bastin von „außerordentlicher Bedeutung“ist. Immerhin wird ein derart großes Gewerbegebiet im Herzen Ravensburgs in ein modernes Wohnviertel umgewandelt.