Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Mit Ehrgeiz und Biss im zweiten Anlauf zum Abitur
Erwachsene kehren am Ravensburger Kolping-Kolleg auf Schulbank zurück – Junge Mutter schildert ihren Weg
RAVENSBURG - „So ein Mist!“– dieser Gedanke bei der Jobsuche war für die heute 28-jährige Anjuli Rossa der Beginn ihrer zweiten Karriere als Schülerin. Die gelernte Jugend- und Heimerziehungspflegerin bemerkte mit Mitte 20, dass die Arbeitsstellen, für die sie sich inzwischen interessierte, ein Studium der Sozialen Arbeit voraussetzten. Aber sie hatte nicht mal Abitur. Das Ravensburger Kolping-Bildungszentrum in der Gartenstraße ist eine von fünf Einrichtungen in Baden-Württemberg, an denen Erwachsene – ähnlich wie am Abendgymnasium, aber mit Unterricht am Tag – ihr Abitur nachholen können. Doch der Weg, den jetzt im neuen Schuljahr wieder Dutzende erwachsene Schüler beginnen werden, ist anstrengend, und nicht alle halten durch.
Der zweite Bildungsweg ist für viele die zweite Chance. „Hier machen manche ein tolles Abi, die mit 16 Jahren nur Fünfer in der Schule hatten“, sagt der Leiter des privaten Kolping-Bildungszentrums in Ravensburg, Jürgen Witznick. 60 Schüler besuchen das Kolleg – die älteste von ihnen sei 54 Jahre alt, die meisten aber doch eher Anfang 20, sagte Witznick im zu Ende gehenden letzten Schuljahr. Am Ravensburger Abendgymnasium – eines von dreien im Regierungspräsidium Tübingen – ist der Großteil der 50 Schüler laut Witznick eher Ende Zwanzig – neben vielen Berufstätigen sind auch junge Mütter darunter.
Anjuli Rossas Schulabschluss lag schon fast zehn Jahre zurück, als sie sich erneut fürs Lernen entschied. Sie hatte zwar bereits parallel zu ihrer Ausbildung mit 17 Jahren begonnen, sich auf die Fachhochschulreife vorzubereiten, scheiterte aber an Mathe. „Dann habe ich es gelassen“, sagt die blond gelockte, aufgeweckte junge Frau über das damalige Ende ihrer Bildungskarriere. Sie ging auf Reisen, war in Asien und Indien und jobbte nach der Rückkehr in der Gastronomie, um Geld zu verdienen. Dann kam der Moment, in dem sie sich wünschte, studieren zu können, um Arbeitsstellen als Sozialarbeiterin annehmen zu können. Nach dieser Entscheidung, mit Mitte 20 noch mal zur Schule zu gehen, erlebt sie Lernen plötzlich ganz anders: „Ich war für Schule noch nie so motiviert wie damals“, sagt sie drei Jahre später rückblickend. „Es war eine der schönsten Erfahrungen, dass ich mich für Wissen ganz anders begeistern konnte.“
Nach wie vor machen Witznicks Eindruck zufolge mehr Frauen das Abitur auf dem zweiten Bildungsweg. Noch immer werde mancher jungen Frau von den Eltern der höhere Bildungsgang nicht zugetraut. Wenn die Rechtsanwaltsgehilfin Jura studieren will oder die Arzthelferin doch Ärztin werden möchte, braucht es das Abitur. Auch manche Migranten – viele von ihnen „blitzgescheit und unglaublich fleißig“, so Witznick – besuchten das Kolping-Kolleg oder das Abendgymnasium. Oft stecke auch ein Schicksal hinter dem abgebrochenen ersten Bildungsweg, zum Beispiel finanzielle Not, kranke Familienmitglieder, eine frühe Schwangerschaft.
Mit den Schülern, die sich aufs Lernen erst wieder einlassen müssen, sei behutsam umzugehen, sagt der langjährige Schulleiter. Denn wer sich auf den zweiten Bildungsweg begebe, habe es nicht immer einfach: Bei manchen sabotiert der Arbeitgeber den Schulbesuch, der im Abendgymnasium am Nachmittag beginnt. Und es gibt erwachsene Schülerinnen, denen der Rückhalt ihres Partners fehlt: „Es gibt auch noch Männer, die dagegen stänkern, weil sie sich unterlegen fühlen“, sagt Witznick. In den Klassen entstehe in der Regel schnell eine Gemeinschaft, die sich gegenseitig stützt. Die Belastung durch Beruf, Familie und zusätzliches Lernen erfordere Energie – die Kollegschüler haben 30 bis 35 Wochenstunden und die Abendgymnasiasten 20 bis 22 Wochenstunden Unterricht.
Nur weil sich die Schüler freiwillig für die Schule entschieden haben, heißt es nicht, dass sie jederzeit höchst engagiert sind. „Es ist eine romantische Vorstellung, dass alle so gerne kommen und nur kämpfen. Man muss die Schüler schon auch motivieren“, sagt Witznick. Am Abendgymnasium gehe die Hälfte aller Schüler zwischen Anmeldung und Abitur wieder verloren. Im Kolleg hörten weniger Schüler auf, weil sie keinen Vollzeitjob nebenher zu stemmen haben.
Anjuli Rossa hat für ihren Weg viel Anerkennung erhalten. „Alle Freunde fanden es cool, dass ich das mache, und sagten: Ich könnte das gar nicht mehr, mich hinsetzen und lernen.“Als sie im September 2019, ein halbes Jahr vor ihrem Abitur, Mutter wurde, hat ihr die von Witznick beschriebene Gemeinschaft geholfen. Mitschüler sammelten Unterlagen für sie. Und bei der Betreuung des Babys haben ihr Freund und die Oma des Kindes geholfen, damit Anjuli Rossa ihren Weg zum Abschluss zu Ende gehen konnte. Den hat sie inzwischen in der Tasche. „Das pusht das Ego“, sagt sie und strahlt. Inzwischen überlegt sie, Literatur zu studieren, weil sie das Schulfach Deutsch auf dem zweiten Bildungsweg als inspirierend erlebt hat. Auch Biologie würde sie interessieren. Die Türen dazu stehen ihr jetzt offen.