Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Mit geistlichem Beistand zum Höllloch
Das Gottesackerplateau im Kleinwalsertal ist ein Wandergebiet der besonderen Art
Die Einzigen, die schlapp machen, sind die Bergschuhe des Pfarrers. Erst löst sich die linke Sohle, dann die rechte. Zu dem Zeitpunkt ist der Gottesacker, das Ziel unserer Bergtour, noch meilenweit entfernt. Aber Pfarrer Edwin Matt, der drei Kirchen unten im Kleinwalsertal leitet, nimmt’s mit Humor. Er packt die Gummileisten in den Rucksack und merkt scherzhaft an: „Na toll, ein Pfarrer ohne Profil.“Der Rest der Schuhe bröselt munter vor sich hin, aber Edwin hält die fünfstündige Tour tapfer durch. „Ich habe die ganze Zeit FußreflexMassage. Da kann man nicht meckern.“Spätestens jetzt ist klar, dass der katholische Pfarrer genau der richtige Begleiter für die Tour ist. Er hat Humor und Ausdauer, ist weltoffen und tolerant. Und er soll uns helfen, das Gottesackerplateau zu ergründen, das Geheimnis des außergewöhnlichen Namens zu lüften.
Das Gottesackerplateau ist eines der größten Karstgebiete der Alpen. Eine geologische Sensation, mit der sich Forscher seit Jahrzehnten beschäftigen. Das Wasser hat sich auf einer Fläche von 20 Quadratkilometern durch das Gestein, den Schrattenkalk, gefressen. Es gibt mehr als 200 Schächte und Höhlen, die teils mehrere Kilometer lang sind. Die Oberfläche, über die der Wanderer stapft, ist bizarr: Spalten, ausgehöhlte Felsriegel, die aussehen wie das Gerippe von Tieren, dunkle Schachte, die Autos verschlucken könnten, Schneelöcher, die nie die Sonne sehen. Fies sind die scharfkantigen Randkluften, die durch jeden Schuh hindurch deutlich zu spüren sind.
Pfarrer Edwin, der zu diesem Zeitpunkt nur noch auf der Einlegsohle läuft, die er mittels Schnur am Restschuh festgebunden hat, lässt sich nichts anmerken. Er wird erst hellhörig, als von der längsten, elf Kilometer langen Höhle die Rede ist, in die Forscher sogar eine Mini-Seilbahn eingebaut haben, um eine gefährliche Wand zu überwinden. Nicht zuletzt deswegen heißt sie Höllloch. Der Pfarrer lässt sich zu einem „Ah, mein Kollege von der anderen Seite“hinreißen und sorgt wieder mal für Entspannung auf der zwar einfachen, aber mit sechs Stunden doch recht langen Tour, bei der man stets den Alpenhauptkamm mit seinen zackigen Spitzen im Blick hat.
An diesem Punkt lässt sich leicht erklären, warum das Kleinwalsertal ein wahres Wanderparadies ist. Es vereint drei Gebirgszüge und alpine Landschaften, die sich von West nach Ost durch das Sackgassental ziehen. Wir sind im nördlichen Teil unterwegs, wo sich das Helveticum erstreckt, das mehr oder weniger aus der Schweiz herübergewachsen ist. Die Gipfel und Höhenwege sind mittelschwer, die Aussicht gen Süden grandios. Wer hinabblickt ins Tal, sieht auf die niedrigeren Grasberge. Sie sind sanft und weich, meist aus Schiefer. Wald und Wiesen wachsen bis zu den Gipfeln und sorgen als grüne Farbtupfer vor den im Hintergrund aufragenden, grauen Spitzen des Alpenhauptkamms für ein freundliches Gesicht des Tales.
Sommerzeit
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Und so kann sich im Kleinwalsertal auf relativ kleinem Raum jeder das Bergvergnügen aussuchen, nach dem ihm der Sinn steht. Freilich ist das Tal kein Geheimtipp, sondern vielmehr ein Muss für jeden Bergfreund. Und das merkt man auch: Mehr als die Hälfte der Gäste, die das Kleinwalsertal jährlich besuchen, kommt während der Wandersaison, in der ein ausgeklügeltes, kostenloses Bussystem und Gratis-Bergbahnen locken. Einzig die Anreise mag manchem kompliziert erscheinen: Es handelt sich um ein Sackgassental, das nur von Osten und ausschließlich über deutsche Straßen zugänglich ist. Man spricht aus österreichischer Sicht von einer Exklave, in der die Einwohner früher ihre Steuern in D-Mark ans österreichische Finanzamt überweisen mussten.
Die Kleinwalsertaler haben gezeigt, dass sie nicht bereit sind, alles dem Tourismus zu opfern: Als es vor ein paar Jahren um die Frage ging, ob eine neue Seilbahn zum Ifen gebaut werden soll, die das Tal quer überspannt hätte, lehnten sie in einem Volksentscheid ab. Die Bahn wäre ein Stück unterhalb des Gottesackers angekommen, hätte Touristen sommers wie winters von den nahen Grasbergen direkt herübergebracht. Am Ende gab es einen Kompromiss: Die alten Bahnen, die es am Ifen bereits gab, wurden plattgemacht und durch neue ersetzt, die seither auch im Sommer fahren. Schon dadurch sind heutzutage deutlich mehr Touristen am Gottesacker unterwegs. Aber: Sie tummeln sich in einem kleinen Bereich, wollen einmal kurz die Spalten und Löcher sehen und drehen wieder um Richtung Bahn.
Wer sich Zeit nimmt für die große Tour, ist über weite Strecken mutterseelenallein und gelangt zur verfallenen Gottesackeralpe, wo Pfarrer Edwin nun sitzt und über den geheimnisvollen Namen grübelt. Es gibt Quellen, die den Gottesacker im Wortsinn als Friedhof deuten, weil angeblich ein paar Älpler neben der Hütte ihre letzte Ruhe fanden. Aber Edwin hält sich da mehr an die Gottesackersage. Demnach war der Alpsenner geizig, überzog einen Bettler, der an seine Tür klopfte, mit Hohn, worauf ihn Gottes Zorn traf und sich seine fruchtbaren Weiden in einen Steinacker verwandelten. „Durch die Sünde wird das Paradies zerstört.“Lehrer, Eltern, Pfarrer hätten das früher jedem Kind eingetrichtert.
Edwin muss schmunzeln, seine Predigten sehen heute ganz anders aus. Er berichtet seinen Kirchgängern gerne aus dem Alltag, um aufzuzeigen, was der richtige Weg ist. Ob er auch sein heutiges Dilemma im nächsten Gottesdienst anspricht? „Jedenfalls war das keine göttliche Prüfung, sondern ein mistiges Paar Schuhe“, sagt er.