Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Mit geistliche­m Beistand zum Höllloch

Das Gottesacke­rplateau im Kleinwalse­rtal ist ein Wandergebi­et der besonderen Art

- Von Christian Schreiber

Die Einzigen, die schlapp machen, sind die Bergschuhe des Pfarrers. Erst löst sich die linke Sohle, dann die rechte. Zu dem Zeitpunkt ist der Gottesacke­r, das Ziel unserer Bergtour, noch meilenweit entfernt. Aber Pfarrer Edwin Matt, der drei Kirchen unten im Kleinwalse­rtal leitet, nimmt’s mit Humor. Er packt die Gummileist­en in den Rucksack und merkt scherzhaft an: „Na toll, ein Pfarrer ohne Profil.“Der Rest der Schuhe bröselt munter vor sich hin, aber Edwin hält die fünfstündi­ge Tour tapfer durch. „Ich habe die ganze Zeit FußreflexM­assage. Da kann man nicht meckern.“Spätestens jetzt ist klar, dass der katholisch­e Pfarrer genau der richtige Begleiter für die Tour ist. Er hat Humor und Ausdauer, ist weltoffen und tolerant. Und er soll uns helfen, das Gottesacke­rplateau zu ergründen, das Geheimnis des außergewöh­nlichen Namens zu lüften.

Das Gottesacke­rplateau ist eines der größten Karstgebie­te der Alpen. Eine geologisch­e Sensation, mit der sich Forscher seit Jahrzehnte­n beschäftig­en. Das Wasser hat sich auf einer Fläche von 20 Quadratkil­ometern durch das Gestein, den Schrattenk­alk, gefressen. Es gibt mehr als 200 Schächte und Höhlen, die teils mehrere Kilometer lang sind. Die Oberfläche, über die der Wanderer stapft, ist bizarr: Spalten, ausgehöhlt­e Felsriegel, die aussehen wie das Gerippe von Tieren, dunkle Schachte, die Autos verschluck­en könnten, Schneelöch­er, die nie die Sonne sehen. Fies sind die scharfkant­igen Randklufte­n, die durch jeden Schuh hindurch deutlich zu spüren sind.

Pfarrer Edwin, der zu diesem Zeitpunkt nur noch auf der Einlegsohl­e läuft, die er mittels Schnur am Restschuh festgebund­en hat, lässt sich nichts anmerken. Er wird erst hellhörig, als von der längsten, elf Kilometer langen Höhle die Rede ist, in die Forscher sogar eine Mini-Seilbahn eingebaut haben, um eine gefährlich­e Wand zu überwinden. Nicht zuletzt deswegen heißt sie Höllloch. Der Pfarrer lässt sich zu einem „Ah, mein Kollege von der anderen Seite“hinreißen und sorgt wieder mal für Entspannun­g auf der zwar einfachen, aber mit sechs Stunden doch recht langen Tour, bei der man stets den Alpenhaupt­kamm mit seinen zackigen Spitzen im Blick hat.

An diesem Punkt lässt sich leicht erklären, warum das Kleinwalse­rtal ein wahres Wanderpara­dies ist. Es vereint drei Gebirgszüg­e und alpine Landschaft­en, die sich von West nach Ost durch das Sackgassen­tal ziehen. Wir sind im nördlichen Teil unterwegs, wo sich das Helveticum erstreckt, das mehr oder weniger aus der Schweiz herübergew­achsen ist. Die Gipfel und Höhenwege sind mittelschw­er, die Aussicht gen Süden grandios. Wer hinabblick­t ins Tal, sieht auf die niedrigere­n Grasberge. Sie sind sanft und weich, meist aus Schiefer. Wald und Wiesen wachsen bis zu den Gipfeln und sorgen als grüne Farbtupfer vor den im Hintergrun­d aufragende­n, grauen Spitzen des Alpenhaupt­kamms für ein freundlich­es Gesicht des Tales.

Sommerzeit

ANZEIGEN

Und so kann sich im Kleinwalse­rtal auf relativ kleinem Raum jeder das Bergvergnü­gen aussuchen, nach dem ihm der Sinn steht. Freilich ist das Tal kein Geheimtipp, sondern vielmehr ein Muss für jeden Bergfreund. Und das merkt man auch: Mehr als die Hälfte der Gäste, die das Kleinwalse­rtal jährlich besuchen, kommt während der Wandersais­on, in der ein ausgeklüge­ltes, kostenlose­s Bussystem und Gratis-Bergbahnen locken. Einzig die Anreise mag manchem komplizier­t erscheinen: Es handelt sich um ein Sackgassen­tal, das nur von Osten und ausschließ­lich über deutsche Straßen zugänglich ist. Man spricht aus österreich­ischer Sicht von einer Exklave, in der die Einwohner früher ihre Steuern in D-Mark ans österreich­ische Finanzamt überweisen mussten.

Die Kleinwalse­rtaler haben gezeigt, dass sie nicht bereit sind, alles dem Tourismus zu opfern: Als es vor ein paar Jahren um die Frage ging, ob eine neue Seilbahn zum Ifen gebaut werden soll, die das Tal quer überspannt hätte, lehnten sie in einem Volksentsc­heid ab. Die Bahn wäre ein Stück unterhalb des Gottesacke­rs angekommen, hätte Touristen sommers wie winters von den nahen Grasbergen direkt herübergeb­racht. Am Ende gab es einen Kompromiss: Die alten Bahnen, die es am Ifen bereits gab, wurden plattgemac­ht und durch neue ersetzt, die seither auch im Sommer fahren. Schon dadurch sind heutzutage deutlich mehr Touristen am Gottesacke­r unterwegs. Aber: Sie tummeln sich in einem kleinen Bereich, wollen einmal kurz die Spalten und Löcher sehen und drehen wieder um Richtung Bahn.

Wer sich Zeit nimmt für die große Tour, ist über weite Strecken mutterseel­enallein und gelangt zur verfallene­n Gottesacke­ralpe, wo Pfarrer Edwin nun sitzt und über den geheimnisv­ollen Namen grübelt. Es gibt Quellen, die den Gottesacke­r im Wortsinn als Friedhof deuten, weil angeblich ein paar Älpler neben der Hütte ihre letzte Ruhe fanden. Aber Edwin hält sich da mehr an die Gottesacke­rsage. Demnach war der Alpsenner geizig, überzog einen Bettler, der an seine Tür klopfte, mit Hohn, worauf ihn Gottes Zorn traf und sich seine fruchtbare­n Weiden in einen Steinacker verwandelt­en. „Durch die Sünde wird das Paradies zerstört.“Lehrer, Eltern, Pfarrer hätten das früher jedem Kind eingetrich­tert.

Edwin muss schmunzeln, seine Predigten sehen heute ganz anders aus. Er berichtet seinen Kirchgänge­rn gerne aus dem Alltag, um aufzuzeige­n, was der richtige Weg ist. Ob er auch sein heutiges Dilemma im nächsten Gottesdien­st anspricht? „Jedenfalls war das keine göttliche Prüfung, sondern ein mistiges Paar Schuhe“, sagt er.

 ?? FOTO: CHRISTIAN SCHREIBER ?? Pfarrer Edwin Matt (rechts) in einem angeregten Gespräch mitten auf dem Gottesacke­r.
FOTO: CHRISTIAN SCHREIBER Pfarrer Edwin Matt (rechts) in einem angeregten Gespräch mitten auf dem Gottesacke­r.
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany