Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Der Unverzichtbare
Toni Kroos ist noch immer eine feste Größe in Joachim Löws Gesamtgebilde
STUTTGART - Wie groß Joachim Löws Wertschätzung für Toni Kroos auch nach zehn gemeinsamen Nationalmannschafts-Jahren ist, zeigt sich auch darin, dass es nicht einmal mehr nötig ist, dass der Bundestrainer seinen Mittelfeldstrategen anruft, um ihn für die nächste Nationalmannschafts-Phase zu nominieren. „Es ist eigentlich so: Wenn ich nichts höre von Jogi, dann reise ich auch an. Egal ob ich nominiert bin oder nicht: Ich komme dann“, verriet Kroos jüngst im Spotify-Podcast „Einfach mal Luppen“mit Bruder Felix. Und so ist Toni Kroos auch dieses Mal in dem guten Gefühl nach Stuttgart aufgebrochen, seinen festen Platz im Kader der deutschen Mannschaft zu haben. Weil Manuel Neuer nicht dabei ist, wird der 30-jährige Kroos das DFB-Team am Donnerstag (20.45 Uhr/ZDF) gegen Spanien vermutlich sogar als Kapitän aufs Feld führen. Die Binde am Arm dürfte ihm, der längst den aufrechten Gang gelernt hat, nicht zu groß sein.
Es scheint Lichtjahre her zu sein, dass Toni Kroos sich im ChampionsLeague-Finale 2012 mit Bayern München weigerte, gegen den FC Chelsea im Elfmeterschießen anzutreten und damit der Eindruck entstand, der hochbegabte Zauberfuß mache sich vom Acker, wenn es brenzlig wird. Zwar haben das die Bayern-Fans bis heute nicht vergessen, Kroos hat aber einiges dafür getan, dass diese Episode acht Jahre später nicht mehr als eine Randnotiz in einer großen Karriere ist. Vier Mal hat er seither die Champions League gewonnen (2013 fehlte er den Bayern gegen Dortmund verletzt, danach folgten drei Titel mit Real Madrid), dazu wurde er Weltmeister 2014 in Brasilien. Vom Siegerteam aus Rio de Janeiro ist Kroos neben Neuer eine der zwei letzten Säulen, die dem DFB den vierten Stern auf dem Trikot bescherten. Seinen Platz unter den vielen nachgerückten Spielern hat er weiterhin ganz sicher. Nicht zuletzt, weil er sein extrem hohes Niveau konstant hält – nicht nur in der Nationalmannschaft, sondern auch im Madrider Starensemble.
Neben den durchgehend überragenden Leistungen auf dem Platz hat
Kroos auch abseits des Rasens kontinuierlich an Reife und Persönlichkeit dazugewonnen. Der dreifache Familienvater zeigt gerne seine Tätowierungen, setzt sich mit seiner 2015 gegründeten Stiftung für gesundheitlich stark beeinträchtigte Kinder und Jugendliche ein, lässt zu, dass im vergangenen Jahr ein intensiver Dokumentarfilm über ihn gedreht wird – und ist auch um eine starke Meinung in der Öffentlichkeit nicht verlegen. Gut zu besichtigen war das beim desaströsen Vorrundenaus bei der WM 2018. Kroos konterte mit scharfen Worten nach seinem späten Siegtor gegen Schweden die bis nach Russland durchgedrungene Kritik aus der Heimat. „Wir wurden viel kritisiert. Viele Leute in Deutschland hätte es sicher gefreut, wenn wir heute rausgeflogen wären. Aber so leicht machen wir es denen nicht“, ätzte er in Richtung der Nörgler. Diese Aussage ins Fernsehmikrofon vor einem Millionenpublikum blieb im Gedächtnis – und schadete Kroos nicht. Im Gegenteil. Nach den Rücktritten beziehungsweise Nichtmehrberücksichtigungen diverser langjähriger Leistungsträger wurde Kroos zwischen vielen neuen Gesichtern noch einmal ein Stück wichtiger in Löws Gesamtgebilde. Nicht zuletzt wegen seiner Erfahrung. Und auch, weil er nach all den Jahren noch immer Ziele hat.
Der EM-Titel fehlt Toni Kroos nämlich. Zwei Anläufe hat er bisher auf die kontinentale Krone gemacht, zweimal war Endstation im Halbfinale. 2012 ging Kroos als Bewacher von Andrea Pirlo gegen Italien ein, vier Jahre später in Frankreich war er immerhin Teil der „Mannschaft des Turniers“– was über die Niederlage gegen Gastgeber Frankreich aber kaum hinwegtröstete. Nun setzt Kroos zum dritten – und womöglich letzten Mal – an, seine große Sammlung
zu vervollständigen. „Den Titel würde ich gerne noch holen“, sagte Kroos am Donnerstag in Stuttgart, wo die Mission gegen Spanien in der Nations League beginnt. Der Wettbewerb, dessen Stellenwert immer wieder umstritten ist, sei nicht zuletzt dafür da, sich „einzuspielen“, ergänzte er.
Er soll die Vorbereitung sein auf das Hauptziel: die EM. Da sind sich Kapitän und Bundestrainer einig. Wie sehr es im kommenden Jahr auf den unverzichtbaren Mittelfeldmann ankommen wird, machte Löw vor dem Duell mit Spanien überdeutlich: Kroos sei „Dreh- und Angelpunkt“im deutschen Spiel, er finde immer eine Lösung, könne unter Druck den Ball behaupten und sei „hoch respektiert in der Mannschaft“. Diese Lobeshymne hat sich Toni Kroos hart erarbeitet – gegen Spanien soll der nächste Beweis folgen, dass sie auch berechtigt ist.