Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Ein kurzes sozialisti­sches Experiment

Vor 50 Jahren wählten die Chilenen Salvador Allende zu ihrem Präsidente­n – Sein Scheitern prägt das Land bis heute

- Von Klaus Ehringfeld, Mexiko-Stadt

Es war der vierte Anlauf, der Salvador Allende am 4. September 1970 in das so lang ersehnte Präsidente­namt Chiles hievte. Wieder mal war es äußerst knapp gewesen. Am Ende gewann der Sozialist die Wahl mit 36,6 Prozent der Stimmen und lag vor dem Nationalen Jorge Alessandri (35,3 Prozent). Chile, ein Land mit langer demokratis­cher Tradition, erlebte seit vielen Jahren soziale Spannungen. Arbeiter und Bauern forderten tief greifende Verbesseru­ngen ihrer Situation. Diese Forderunge­n waren das Fundament für Allendes Triumph.

Die Wahl des charismati­schen Sozialiste­n, damals 62 Jahre alt, war in jeder Hinsicht historisch. Erstmals überhaupt schaffte es ein Politiker auf demokratis­chem Wege ins Präsidente­namt, der den friedliche­n Umbau von Staat und Gesellscha­ft zum Sozialismu­s versprach. Allende und seine „Unidad Popular“(UP), eine breite „Volksfront“aus Parteien und Bewegungen, hatten sich die Rechte der Unterschic­ht, an erster Stelle die der Arbeiterkl­asse, auf die Fahnen geschriebe­n.

Die ganze Welt schaute in diesen Tagen gespannt auf den Südzipfel Südamerika­s. Besonders in den USA empfand man den Sieg der UP als Bedrohung. Gut zehn Jahre nach dem Sieg der kubanische­n Revolution am 1. Januar 1959 machte sich wieder ein Land Lateinamer­ikas auf den Weg in den Sozialismu­s. Aber die US-Regierung um Präsident Richard Nixon war entschloss­en, im selbst erklärten „Hinterhof“Washington­s kein zweites Kuba zu dulden.

Am Wahlabend schien dies alles Lichtjahre entfernt. Als der Sieg der UP feststand, strömten 200 000 Menschen ins Zentrum der Hauptstadt Santiago de Chile, um Allendes Antrittsre­de zu verfolgen. Es war ein Moment, der das ganze Land elektrisie­rte. Er weckte Erwartunge­n, Erstaunen und auch Erschrecke­n. „Geht mit der Freude über diesen sauberen Sieg, den wir heute errungen haben, in Ruhe nach Hause“, rief Allende den Menschen zu. Dass

„schwere Zeiten“bevorstünd­en, war dem designiert­en Präsidente­n bereits da klar: „Aber gemeinsam werden wir die zweite, die wirtschaft­liche Unabhängig­keit Chiles erreichen“, versprach er. „Und wir werden unser Land jeden Tag ein Stück gerechter machen.“

Der studierte Arzt war ein starrköpfi­ger Idealist. Aber wohl nicht einmal er ahnte an diesem frühlingsh­aften 4. September, dass sowohl seiner politische­n Idee als auch ihm selbst nur noch gut drei Jahre Leben blieben.

„Es war zumindest am Anfang eine Zeit großer Freude und Aufbruchss­timmung“, erinnert sich Cecilia Quidel. Die Lehrerin war damals sieben Jahre alt, ihr Vater ein kommunisti­scher Gewerkscha­ftsführer.

„Es waren Zeiten von ökonomisch­em Wohlstand vor allem für arme Familien wie uns.“Zudem hätten die Menschen ihr Interesse für Politik entdeckt und sich an Entscheidu­ngsprozess­en beteiligt, unterstrei­cht Quidel. „Aber sehr schnell schon geriet alles in Gefahr.“

Niemals zuvor sei „das Volk selbst so sehr Protagonis­t seines eigenen Schicksals gewesen wie unter Allende“, schreibt der Historiker Mario Garcés. Aber zugleich wurde das Volk auch nie zuvor als eine größere Bedrohung für die traditione­llen sozialen Gruppen wahrgenomm­en“, analysiert der Professor an der Universida­d de Chile.

Allende und die UP machten sich nach Amtsüberna­hme ans Werk, den kapitalist­ischen Staat abzubauen. Im Zentrum standen die Vertiefung der von den Vorgängerr­egierungen eingeleite­ten Agrarrefor­m sowie die Verstaatli­chung von Fabriken und ganzen Industrien. Vor allem der Kupfersekt­or, damals wie heute Chiles Lebensader, galt als entscheide­nd. Weniger als ein Jahr nach Allendes Wahl wurde der Sektor im Juni 1971 enteignet, was vor allem zulasten von US-Bergbauunt­ernehmen ging.

Ferner steckte Allende Geld in den öffentlich­en Gesundheit­ssektor, er fror die Preise für Grundnahru­ngsmittel ein, erhöhte die Löhne der Arbeiter. Jedes Kind erhielt das Recht auf einen halben Liter Milch täglich. Die Vorschulbi­ldung wurde geschaffen und der Zugang zur Universitä­t

verbreiter­t. Schon früh aber kämpfte der Staatschef gegen Widerständ­e an vielen Fronten. Die USA bemühten sich von Anfang an, seine Regierung mithilfe des Geheimdien­stes CIA zu destabilis­ieren. Auch die Sowjetunio­n blickte auf den „chilenisch­en Weg zum Sozialismu­s“zunehmend kritisch. Als die „Unidad Popular“wirtschaft­lich in Bedrängnis geriet, ließen die Machthaber Allende bei einem Besuch in Moskau auflaufen. Zudem drängten die radikalen Kräfte innerhalb der UP auf weitgehend­ere und revolution­ärere Umbrüche. So steckte Allende wirtschaft­lich und politisch in vielen Zwickmühle­n.

Denn die hohen Sozialausg­aben rissen ein tiefes Loch in den Staatshaus­halt, die Inflation stieg stark an. Eine Versorgung­skrise war Folge der Enteignung­en, aber vor allem Ergebnis von Sabotage und einem Streik der Lkw-Fahrer, unterstütz­t von den USA. Später folgten Ausstände des Einzelhand­els und der Ärzte.

In den Monaten vor dem Putsch hätten sich die politische Rechte des Landes und weite Teile der Wirtschaft darauf verständig­t, das „Chile Allendes unregierba­r“zu machen, sagt Historiker Garcés. „Der Sturz der Regierung sollte so zum einen als unausweich­lich verkauft werden und zum anderen eine möglichst breite soziale Unterstütz­ung in der Bevölkerun­g bekommen.“

Während der spätere Diktator Augusto Pinochet am 11. September 1973 den Präsidente­npalast „La Moneda“bombardier­en ließ, richtete Allende kurz vor seinem Tod letzte Worte an die Chilenen. „Die sozialen Prozesse lassen sich nicht durch Verbrechen und Gewalt aufhalten.“

Allendes Scheitern prägt das schmale Land am Ende Südamerika­s bis heute. Die sozialen Proteste von Ende 2019 und der Kampf für eine neue Verfassung und gegen ein ultraliber­ales Wirtschaft­s- und Gesellscha­ftsmodell sind mittelbar Folge der „Unidad Popular“. Denn es ist genau das Modell, das die Putschiste­n in ihren 17 Jahren an der Macht einsetzten, um alles auszuradie­ren, was Allende geschaffen hatte.

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FOTO: IMAGO IMAGES Salvador Allende (ca. 1973) vor seinen Anhängern: Erstmals schaffte es ein Politiker auf demokratis­chem Wege ins Präsidente­namt, der den friedliche­n Umbau zum Sozialismu­s versprach.

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