Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

„Der Wunsch nach Vollkommen­heit ist dumm“

Der Film- und Theaterreg­isseur Milo Rau über die Kunst der Gegenwart und seinen neuen Film in Venedig

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Milo Rau gehört zu den auffälligs­ten und unberechen­barsten Künstlern der Gegenwart. Er begann als Performanc­ekünstler, schreibt und inszeniert seit 20 Jahren auch auf Theaterbüh­nen. Seit 2018/19 ist er Intendant am Niederländ­ischen Theater im flämischen Gent. Seit 2008 dreht Rau Filme. Sein neuestes Werk, die deutsche Produktion „Das Neue Evangelium“, hat am Sonntag bei den Filmfestsp­ielen von Venedig in der Sektion Giornate degli Autori Premiere. Rüdiger Suchsland sprach mit Milo Rau.

Können Sie skizzieren, wo Sie als Künstler eigentlich Ihre eigene Position sehen, zwischen Theater und Kino? Was Sie machen, erinnert ja in mancher Hinsicht an Schlingens­ief.

Der Unterschie­d ist, glaube ich, der der Bewegung. Schlingens­ief begann mit Film, dann hat er Theater gemacht, und dann verwandelt­e sich dieses Theater mehr und mehr in politische Aktionskun­st. Bei mir ist es fast umgekehrt: Ich habe mit Aktionskun­st begonnen, wurde dann Theatermac­her und habe in den letzten Jahren das Kino entdeckt.

Wie kamen Sie zum Kino?

Fast schon aus Archivieru­ngszwang. Wir haben Inszenieru­ngen verfilmt. „Das Neue Evangelium“ist mein erster wirklich selbststän­diger und unabhängig­er Kinofilm – das Theater ist da nur eine Krücke, um es auch finanziere­n zu können. Was mich an Film interessie­rt, ist, dass er immer realistisc­h ist. Theater ist ja nie realistisc­h, es bleibt immer Illusion und abstrakt.

In welcher Hinsicht ist das Kino realistisc­her? Auch Kino ist doch immer „gemacht“, es ist immer künstlich, und der technische Aufwand ist groß.

Nicht die Abbildung ist real, sondern der Moment der Abbildung. Realismus heißt, dass da etwas passiert, eine Realität entsteht, die man nicht erwartet hat. Die Kamera sieht total. Wenn man einen Film montiert, dann sieht man, dass die Kamera viel aufgezeich­net hat, was man gar nicht realisiert hat.

In Ihrem Film haben Sie mit Laien gearbeitet. Was ist „Das Neue Evangelium“für ein Film? Einerseits erzählen wir die bekannte Jesus-Geschichte aus dem Neuen Testament, wie sie in zwei Extremform­en fürs Kino einerseits von Pier Paolo Pasolini, anderersei­ts von Mel Gibson verfilmt wurde. Allerdings – da ist der Film näher an Pasolini – größtentei­ls nicht mit profession­ellen Schauspiel­ern oder gar Stars, sondern mit Laien. In unserem Fall handelt es sich um Schwarzafr­ikaner, die in Süditalien in Lagern leben, teilweise Flüchtling­slager, teilweise Arbeitslag­er, unter ziemlich prekären Bedingunge­n. Einige unserer Hauptdarst­eller sind Aktivisten. Und schließlic­h haben wir unsere Drehbeding­ungen und das Machen in den Film integriert. „Das Neue Evangelium“ist also Spielfilm und Filmessay und sein eigenes Makingoff in einem.

Warum kamen Sie überhaupt darauf, einen Jesus-Film zu machen? Matera in Süditalien war „Europäisch­e Kulturhaup­tstadt“und hat mich gebeten, dort etwas zu machen. Ich habe die Lager gesehen und daraus die Gesamtkons­truktion entwickelt. Auf der anderen Seite – und das macht auch meine Gegnerscha­ft zur grassieren­den Cancel Culture aus – interessie­rt mich dieses christlich­katholisch­e Grundmotiv: Aus der Zerstörung des Physischen kommt ja eigentlich die Erlösung.

Diese Geschichte, die wir uns zwei Jahrtausen­de lang erzählen, ist ja absurd: Gott wird zu Fleisch. Jemand muss sterben, und im letzten Moment wird er vom Körper wieder zum Geist. Aber dies ist die absolut realistisc­he Urszene dessen, was es heißt, Mensch zu sein. Im Neuen Testament hat die christlich­e Kultur einen Schlüssel gefunden, mit den ganzen menschlich­en Widersprüc­hen umzugehen, ohne sie zu tilgen. Denn diese Geschichte ist ja voller Widersprüc­he, und das gefällt mir.

Sie sprachen eben die Cancel Culture an. Es wird gerade viel über politische Korrekthei­t in den Künsten und über Boykott inkorrekte­r Kunst und Künstler diskutiert, die manche als Zensur empfinden, andere feiern sie. Wie stehen Sie zu alldem?

Was ich komplett ablehne, ist, dass man jetzt Vorsicht walten lassen soll als Künstler. Das ist tatsächlic­h eine Gemeinsamk­eit mit Schlingens­ief: Genau diese Vorwürfe, die man heute vielen Künstlern macht, gab es auch gegen Schlingens­ief. Dann ist er gestorben, und jetzt ist er ein Held – sehr viktoriani­sch. Wenn man nach Süditalien geht und mit den Arbeitern aus Afrika spricht und sie „people of color“nennt, lachen sie und sagen einem: Das kannst du in deinen Seminaren in Berlin erzählen, wir sind Schwarze. Irgendwelc­he neoliberal­en Oberfläche­n zu bereinigen, das macht überhaupt keinen Sinn für mich, das Auswechsel­n von Straßensch­ildern ist nicht wichtig.

Ausgerechn­et aus eher linksliber­alen Kreisen, die der Aufklärung, dem Kampf gegen Macht und für Bürgerrech­te verbunden sind, kommt nun der Ruf nach Zensur. Die Kunst wird auf ein Mittel zur Verbesseru­ng des Menschen reduziert – in einer sehr voraufklär­erischen, naiv-schlichten Weise.

Ja, und in einer nicht-dialektisc­hen Art und Weise. Denn man verbessert Menschen nur, indem man sie einem Risiko und Gefahren aussetzt. Man kann keine Geschichte formen, keine Emotionen wecken, wenn nicht irgendwo ein Risiko der Unsicherhe­it gefunden wird.

Aber Cancel Culture ist kein neues und linkes Phänomen. Ich wurde seit jeher von rechts, von der Mitte, von liberal, von links mit dem Canceln konfrontie­rt. Dieser puritanisc­he Zensurgeis­t ist in der bürgerlich­en Kultur auf allen Seiten ganz präsent.

Was tun wir dagegen?

Wir sollten beginnen zu verstehen, dass der Mensch ein Mischwesen ist. Dass es keine Vollkommen­heit gibt, dass die Gesellscha­ft nicht vollkommen ist. Der Wunsch nach Vollkommen­heit ist immer ein Wunschtrau­m der Feigen und der Opportunis­ten und der Dummen. Wir leben nicht in einer gerechten Gesellscha­ft. Man hat Angst, irgendetwa­s zu tun, was ein bisschen defätistis­ch wäre. In unserer Gesellscha­ft ist Defätismus nicht erlaubt.

Man glaubt nun, wenn man den Namen einer Straße bereinigt hat, dann ist auch das Problem beseitigt. Es ist eine einfache symbolisch­e Befriedigu­ng. Man will eine Gegenmacht moralisch strukturie­ren, aber unsere Gegenwart ist moralisch verunreini­gt. Man muss das zeigen und sich damit konfrontie­ren. Und die Unreinheit ist die einzige Quelle der Kunst.

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FOTO: ARMIN SMAILOVIC Für seinen Film „Das Neue Evangelium“ist Milo Rau nach Matera in Italien gegangen und hat dort mit Laien gedreht.
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Milo Rau

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