Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
„Durchhalten!“
Die Benediktiner-Äbtissin Mechthild Thürmer gewährt Flüchtlingen im Kloster Kirchenasyl und erhält viel Unterstützung – Die bayerische Justiz droht der Ordensfrau mit Haft – Der Vorwurf: Beihilfe zum unerlaubten Aufenthalt
Ich bin auch das Klostertaxi.“Mutter Mechthild Thürmer, Äbtissin des Benediktinerinnenklosters Maria Frieden im oberfränkischen Kirchschletten, hat derzeit mehrere Jobs: Sie muss die Führung der Abtei mit elf Nonnen wahrnehmen, ist als nebenberufliche Taxifahrerin für die Abtei unterwegs und als Interviewpartnerin beliebt. Sie hat Gesprächsanfragen, Briefe, Mails und auch viele herkömmliche Karten und Briefe zu beantworten: „Allein dafür bräuchte ich zwei Sekretäre, haben Sie nicht einen übrig?“Gut möglich aber, dass die 62-Jährige es bald ruhiger angehen lassen muss – zwangsweise: Angeklagt ist sie wegen der Beihilfe zum unerlaubten Aufenthalt. Das Amtsgericht Bamberg droht ihr wegen mehrerer Fälle von gewährtem Kirchenasyl Haft an. Sie habe „im Falle einer entsprechenden dreifachen Verurteilung mit der Verhängung einer empfindlichen Freiheitsstrafe zu rechnen“. Thürmer bleibt trotzdem standhaft.
Beim Kirchenasyl nehmen kirchliche Einrichtungen zeitlich befristet Flüchtlinge auf, denen bei Abschiebung Gefahr an Leib und Leben oder die Verletzung ihrer Menschenrechte droht. Durch den Schutz auf Zeit gibt das Kirchenasyl den Betroffenen und ihrem Rechtsbeistand die Möglichkeit, alle in Betracht zu ziehenden rechtlichen, sozialen und humanitären Gesichtspunkte ihres Asylgesuchs neu prüfen zu lassen. „Und genau das habe ich getan und würde es im Notfall wahrscheinlich wieder tun“, betont die resolute Ordensfrau.
Wenn die Äbtissin über einige der 30 Fälle berichtet, in denen sie und ihre Mitschwestern Kirchenasyl gewährt haben, kann sie die persönliche Betroffenheit nicht verbergen. Sie hat Menschen erlebt, denen unsagbares Leid widerfahren ist. Männer mit kaum vernarbten Wunden von Folterungen, durch Vergewaltigungen traumatisierte Frauen, Flüchtlinge, die die Höllentouren über das Mittelmeer gerade so überstanden haben und die anderen ertrinken sahen. Alle hatten in Deutschland auf ein gerechtes Asylverfahren gehofft. Oft vergebens. Auf Basis der Dublin-Regelung mussten sie mit Rückführung, also Abschiebung, in Staaten rechnen, die Flüchtlinge eher schlecht behandeln, weil ihnen oft auch die Möglichkeit dazu fehlt.
Vornehmlich Frauen und ein paar Männern, Opfern von Verfolgung, Krieg und Terror in ihren Heimatländern, hat die Abtei in den vergangenen Jahren Asyl gewährt. Und sich dabei strikt an die Verfahrensregeln gehalten, auf die sich 2015 die Kirchen mit dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) mit Blick auf Kirchenasyl geeinigt haben. Kirchenasyl gilt als „Ultima ratio“, wenn alle Mittel ausgeschöpft sind und die Abschiebung droht. „Es waren alles absolute Härtefälle“, sagt die Benediktinerin und fügt energisch hinzu: „Ich habe so gehandelt, wie Jesus es auch getan hätte. Ich habe nichts falsch gemacht!“Flüchtlinge
„haben ein Kreuz zu tragen, da ist es mir egal, ob sie Christen oder Muslime sind, es sind Menschen in Not“.
Die bayerische Justiz sieht das Engagement der Benediktinerin in mehreren Fällen kritisch. So hatte Thürmer im Jahr 2018 einer Frau aus Eritrea Kirchenasyl gewährt, um sie vor einer Abschiebung nach Italien zu bewahren. Verhindert habe sie, dass diese junge Afrikanerin dort „unter Brücken schlafen muss und Vergewaltigung und Zwangsprostitution ausgesetzt ist“, entrüstet sich die Äbtissin, die ihren später schwangeren Schützling nachts um zwei Uhr höchstpersönlich zur Entbindung ins Krankenhaus gebracht hat. Der Ehemann der Eritreerin hatte bereits einen gültigen Aufenthaltstitel für Deutschland. Die Familie auseinanderzureißen, wollte Schwester Mechthild nicht hinnehmen. Nach einer Weisung des Bundesamtes für
Migration und Flüchtlinge von 2018 ist eine drohende Ausreise in ein anderes Mitgliedsland des Dubliner Abkommens aber keine ausreichende Begründung dafür, dass ein Kirchenasyl straffrei bleiben könnte. Die Frau aus Eritrea lebt inzwischen mit ihrem Baby und ihrem Ehemann, der anerkannt und berufstätig ist, in einem Aufnahmelager in Oberbayern.
Angesprochen auf den konkreten Fall erklärt Ursula Gräfin Praschma, Vizepräsidentin im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, das Vorgehen: „Wir prüfen immer, wie es einem Flüchtling in einem anderen Land erginge, streng nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes. Konkret sind es drei Grundkriterien: Er muss ein Dach über dem Kopf und ein Bett haben, er muss sich waschen können und er muss etwas zu essen bekommen. Und dabei berücksichtigen wir auch, um welche Person es sich handelt: Ist es eine alleinerziehende Mutter oder ein gesunder, arbeitsfähiger Mann?“
Durch das Kirchenasyl für die Frau aus Eritrea hat sich die Ordensfrau nach Ansicht der Staatsanwaltschaft strafbar gemacht. Einen Strafbefehl über 2500 Euro akzeptierte sie nicht und machte damit eine Hauptverhandlung am Amtsgericht Bamberg notwendig. Mit ihrem Rechtsanwalt legte sie Einspruch ein: „Ich käme mir nicht ehrlich vor, die 2500 Euro zu bezahlen, nur um meine Ruhe zu haben“, erklärt Mutter Mechthild. Ursprünglich war der Gerichtstermin, zu dem die Äbtissin persönlich erscheinen muss, für 31. Juli 2020 geplant. Dieser wurde jedoch kurzfristig abgesagt. Die offizielle Begründung dafür gibt Peter Neller,
Die Benediktiner-Äbtissin Mechthild Thürmer
Pressesprecher des Amtsgerichts: „Der Termin wurde aus prozessökonomischen Gründen abgesetzt. Es gibt weitere Ermittlungen der Staatsanwaltschaft. Derzeit gibt es keinerlei Erkenntnisse bezüglich einer Verfahrensbeendigung. Es wird von einem später anzuberaumenden Haupttermin ausgegangen.“So wird bei Gerichten häufig verfahren, wenn weitere Anklagen in gleicher oder ähnlicher Sache erwartet werden. Es gebe weitere Ermittlungsverfahren gegen die Ordensfrau, bestätigt die Staatsanwaltschaft Bamberg.
Mutter Mechthild bestätigt selbst, dass sie in den vergangenen Tagen Nachricht von der Polizei über ein weiteres Ermittlungsverfahren gegen sie erhalten habe. In diesem Fall handle es sich um das Kirchenasyl für eine Nigerianerin. Die Beschuldigung laute gleich wie im ersten Fall: „Beihilfe zum unerlaubten Aufenthalt gemäß §§ 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG, 27 StGB“.
Doch ist der bayerischen Justiz offensichtlich nicht ganz wohl bei dem Gedanken, eine Äbtissin medienwirksam zu Haft zu verurteilen. Jetzt legt die Justiz der Ordensfrau wegen der zu erwartenden Haft „dringend nahe“, ihr Verhalten zu überdenken. Für diesen Fall wird ihr die Aussetzung der Strafe zur Bewährung in Aussicht gestellt. Doch diesen „Deal“, den das Amtsgericht Bamberg noch vor der öffentlichen Verhandlung angeboten hatte, lehnt Thürmer ab. Der derzeit von ihr beschützten Kurdin drohe die Abschiebung nach Rumänien. „Es geht um Menschenleben, um die Zukunft junger Menschen“, sagt die Ordensfrau. Diese könne sie im konkreten Fall nicht opfern, nur weil sie sich in einer juristischen Auseinandersetzung befinde. „Das ist doch kein Schachspiel.“
Das Verfahren wird auch in Baden-Württemberg mit Spannung verfolgt. Zwar gewähren derzeit weder evangelische noch katholische Kirchengemeinden Kirchenasyl. Doch ist es nur eine Frage der Zeit, bis wieder ein Flüchtling an eine Kirchentüre klopft. Eva Wiedemann, Pressesprecherin der Diözese Rottenburg-Stuttgart, erinnert an zwei Fälle aus dem vergangenen Jahr: „In den beiden Fällen war es beispielsweise so, dass wir konkret aufzeigen konnten, dass ein Betroffener in einer Flüchtlingsunterkunft von einem Verantwortlichen dort sexuell missbraucht worden war.“Der Flüchtling wurde vom Bamf als Härtefall anerkannt.
Wiedemann weiter: „Im zweiten Fall konnte glaubhaft gemacht werden, dass der Betroffene in dem EU-Land, wo er nach der Flucht zuerst ankam, als Minderjähriger komplett unversorgt über ein Jahr lang auf der Straße hatte leben müssen.“Auch hier: Anerkennung als Härtefall. Die Sprecherin resümiert: „Beides hätte in den jeweiligen Erstaufnahmeländern nicht passieren dürfen und war dem Bamf bei seiner Anhörung so nicht bekannt gewesen.“
Das seit August 2018 geltende Verfahren verpflichtet Kirchen dazu, für jeden Kirchenasylfall ein Härtefalldossier beim Bamf einzureichen. Stellt die Behörde daraufhin keine besondere Härte fest, müssen abgelehnte Asylbewerber das Kirchenasyl innerhalb von drei Tagen verlassen. „Nicht in allen, aber in einzelnen Fällen hat sich die kirchliche Seite nicht an diese Vereinbarung gehalten“, sagt Axel Müller, Wahlkreisabgeordneter für den Kreis Ravensburg und Mitglied im Innenausschuss des Bundestages, der das Kirchenasyl kritisch sieht. „Das kann ich so nicht gutheißen – zum einen als Innenpolitiker, zum anderen als Jurist, der gelernt hat, dass man sich an Vereinbarungen zu halten hat und sich nicht über das geltende Recht hinwegsetzen darf.“In einem Fall sei Kirchenasyl gewährt worden, weil man der Auffassung war, dass das Asylverfahren
in einem anderen EULand für den Betroffenen nachteilig ausgestaltet sei. Müller: „Wir sollten uns nicht anmaßen, dass Asylverfahren nur so rechtmäßig sind, wie wir sie in Deutschland abwickeln. Andere europäische Staaten sind auch Rechtsstaaten.“
Der Bevollmächtigte des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Prälat Martin Dutzmann, sagt: „Der Beschluss der Innenministerkonferenz vom 7. Juni 2018 widerspricht der aktuellen Rechtsprechung.“Zudem seien viele Gemeinden frustriert, dass die Fälle in der Regel negativ entschieden würden. Beispielsweise würden ärztliche Atteste bisweilen nicht berücksichtigt, weil sie formalen Anforderungen nicht genügten.
Dem widerspricht Bamf-Vizepräsidentin Gräfin Praschma: „Wenn wir früher zu streng waren, sind wir es heute nicht mehr. Wir erkennen jetzt Härtefälle schon im Asylverfahren an. Ein Kirchenasyl ist dann oftmals nicht mehr notwendig. Die Kirchen und andere Kritiker sehen ja immer nur die Fälle, bei denen es aus deren Sicht schiefgegangen ist.“
Die Zahlen geben der Gräfin recht: Längst nicht alle Fälle, in denen die Kirchen Asyl gewähren, enden mit der Anerkennung durch das Bamf: „Von Januar bis Juni 2020 erreichten 143 Kirchenasylmeldungen für 204 Personen das Bundesamt. Dazu wurden 108 Dossiers eingereicht, das entspricht 76 Prozent der Fälle. Bislang wurden noch nicht alle gemeldeten Fälle abschließend bearbeitet“, sagt eine Sprecherin der Nürnberger Behörde.
Besondere, außergewöhnliche Härte sei nur in drei Fällen anerkannt worden, sodass das nationale Verfahren eingeleitet wurde. Im Gesamtjahr 2019 hatten 635 Kirchenasylmeldungen für 951 Personen das Bundesamt erreicht. Besondere, außergewöhnliche Härte wurde in 14 Fällen anerkannt. Durch das Bundesamt sind im Gesamtjahr 2019 insgesamt 20 Kirchenasylfälle und von Januar bis Juni 2020 sieben Kirchenasylfälle ohne Dublin-Bezug geprüft worden. „Es geht beim Kirchenasyl also überwiegend um die Verhinderung einer Überstellung in einen anderen europäischen Staat“, sagt die Sprecherin.
Die Verweildauer der Asylbewerber in den Kirchengemeinden sieht auch das Haus von Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) kritisch. Asylbewerber müssten das Kirchenasyl eigentlich innerhalb von drei Tagen verlassen, nachdem sie als Härtefall einen Ablehnungsbescheid erhalten hätten. Die Praxis sehe aber anders aus. „Dies geschah in den letzten Jahren nicht.“
Juristen und Befürworter des Kirchenasyls schreiben dem Prozess vor dem Amtsgericht Bamberg allgemeine Bedeutung zu, da es bisher keine gerichtlichen Grundsatzentscheidungen zur möglichen Strafbarkeit von Kirchenasyl gibt. Gesetze dazu: Fehlanzeige. Juristen sprechen vielmehr von einer christlich-humanitären Tradition, die toleriert werde. In der Vergangenheit stellten die Staatsanwaltschaften die Verfahren oft „wegen geringer Schuld“ein – teils ohne Sanktionen, teils gegen Zahlung einer Geldauflage. Zuletzt verhängten sie mehrfach Strafbefehle, die die Beschuldigten akzeptierten.
Unterstützung bekommt die Äbtissin derweil aus Rom: Beispielsweise würdigt Kurienkardinal Michael Czerny – in der vatikanischen Entwicklungsbehörde für die Themen Migration und Flucht zuständig – ihr Verhalten. Bei einem Internetseminar der englischen Zeitschrift „The Tablet“sagte er: „Gott segne sie!“Viele Ordensgemeinschaften, vor allem auch aus Amerika und Australien, unterstützen die Ordensfrau.
Ebenso ist der Bamberger Erzbischof Ludwig Schick klar und deutlich: „Durchhalten“, rief er den Ordensschwestern nach einem Gottesdienst zu. Für ihn ist „Kirchenasyl (...) eine Form der kirchlichen Fürsorge“. Die Möglichkeit, in der Kirche Zuflucht zu finden, „muss erhalten bleiben“.
Das bedeute nicht, so der Erzbischof, dass die Kirche sich über staatliches Recht hinwegsetzt. Das Kirchenasyl helfe vielmehr einzelnen Menschen, auf Zeit hierzubleiben, um das Recht in vollem Umfang ausschöpfen zu können. Das Kirchenasyl sei kein Instrument, um die Asylfrage grundsätzlich zu lösen, aber ein Mittel, um Grenzfälle nochmals genauer zu überprüfen. Es bedeute Hilfe für Menschen in humanitären Härtefällen.
Auch der Hauptgeschäftsführer des katholischen Hilfswerks Misereor, Pirmin Spiegel, stärkt der Äbtissin den Rücken. Die Ordensfrau stehe für eine „Kultur und eine Kirche des Hinsehens und der Solidarität“. Genau so eine Kirche wünsche er sich, die gegen eine „Globalisierung der Gleichgültigkeit“angehe, wie Papst Franziskus angemahnt habe. An den europäischen Außengrenzen, auf dem Mittelmeer, aber auch in diesem Fall werde sichtbar: „Wer Hilfe zu kriminalisieren versucht, der braucht sich über die Entsolidarisierung von Gesellschaftsgruppen an anderer Stelle nicht zu wundern“, so Spiegel.
Sie gehe nicht davon aus, dass sie tatsächlich zu einer Freiheitsstrafe verurteilt werde, sagt Mutter Mechthild und bleibt optimistisch, auch wenn die Aussicht auf Haft sie wenig schrecke. Gleichwohl fügt sie hinzu, dass sie nicht ins Gefängnis gehen könne: „Wer sorgt sich dann um die alten Schwestern?“
Axel Müller, Mitglied des Innenausschusses im Bundestag
„Ich habe so gehandelt, wie Jesus es auch getan hätte. Ich habe nichts falsch gemacht!“
„Das kann ich so nicht gutheißen – zum einen als Innenpolitiker, zum anderen als Jurist, der gelernt hat, dass man sich an Vereinbarungen zu halten hat.“