Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Merkels deutliche Worte bergen Risiken
Ein Stopp von Nord Stream 2 könnte Deutschland teuer zu stehen kommen
BERLIN (dpa) - Die osteuropäischen Verbündeten kritisieren das Projekt scharf, die USA attackieren es sogar mit Sanktionen: Seit Jahren kämpft die Bundesregierung gegen massiven Widerstand für Nord Stream 2, die umstrittene Gaspipeline durch die Ostsee zwischen Russland und Deutschland. Nur noch gut 150 Kilometer der insgesamt 2360 Kilometer langen Stränge der Pipeline fehlen. Doch jetzt, kurz vor der Ziellinie, steht die Unterstützung der Bundesregierung wegen der Vergiftung des russischen Kremlkritikers Alexej Nawalny auf der Kippe. Jedenfalls vermeidet es Kanzlerin Angela Merkel (CDU), nach dem Giftbefund bei Russlands bekanntestem Oppositionellem das zu wiederholen, was noch am vergangenen Freitag galt: „Wir wollen, dass das fertiggebaut wird, und dass die Frage Nawalny wie auch andere Fragen (…) separat diskutiert werden müssen“, sagte sie da auf ihrer Sommerpressekonferenz. Bei ihrem ersten öffentlichen Auftritt nach dem Vergiftungsbefund wich sie am Donnerstag der Frage nach der Zukunft von Nord Stream 2 aus.
Stopp oder Abbruch?
Das Projekt wackelt und die Forderungen nach einem Stopp werden lauter – auch in Merkels eigener Partei. Friedrich Merz, Kandidat für den CDU-Vorsitz, schlug am Freitag in der „Bild“einen zweijährigen Baustopp vor. Faktisch ändern würde das aber wenig. Denn seit der Verhängung von US-Sanktionen im vergangenen Dezember passiert ohnehin nicht viel, die Verlegung der Rohre ruht.
Eine deutlich härtere Wirkung hätte ein Abbruch des Projekts, für den die Grünen am lautstärksten eintreten. Allerdings ist das nicht so einfach, weil es sich um eine privatwirtschaftliche Unternehmung handelt und Nord Stream 2 Genehmigungen für den Bau und Betrieb hat. GrünenFraktionsvize Oliver Krischer fordert die Bundesregierung auf, einen „wasserdichten und entschädigungsfreien Weg“aufzeigen, wie die Fertigstellung von Nord Stream 2 verhindert werden könne. Zunächst einmal gelte jedoch der rechtskräftige Planfeststellungsbeschluss, sagt Oliver Hermes, Vorsitzender des Ost-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft. „Wir sehen auch nicht, dass diese Genehmigung rückwirkend infrage gestellt werden kann, denn das würde ja bedeuten, dass laufende Projekte nach politischer Großwetterlage an- und abgeschaltet werden könnten.“
Wirtschaftliche Kosten – Milliardeninvestitionen versenkt:
Bei einem Abbruch würden jedenfalls Milliardeninvestitionen – auch deutscher Unternehmen – buchstäblich in der Ostsee versenkt. Im Falle eines Baustopps müssten Investitionen in Höhe von acht Milliarden Euro abgeschrieben werden, sagt Timm Kehler, Vorstand von Zukunft Erdgas, einer Initiative der deutschen Gaswirtschaft. Weiterhin müssten die aufgelaufenen Kosten für die Anbindungspipelines von vier Milliarden
Euro von den Gaskunden gezahlt werden, ohne dass diese genutzt würden. Rund 120 Unternehmen aus zwölf europäischen Ländern seien am Bau und Betrieb der Pipeline beteiligt.
Was ist das russische Ziel? Zerstörung des Modells freier Gesellschaften. Dafür finanziert Putin, „Ein Totalverlust beider Pipeline-Investitionen könnte für einzelne europäische Unternehmen zu Schäden in Milliardenhöhe führen und würde Arbeitsplätze vor allem in
Ostdeutschland kosten“, sagt Hermes.
Wirtschaftliche Nebenwirkung – Brückentechnologien ausgebremst: Gas wird von der Bundesregierung als „Brückentechnologie“gesehen. Denn bis Ende 2022 steigt Deutschland aus der Atomkraft aus und bis spätestens 2038 aus der Kohleverstromung, die ersten Blöcke gehen in den kommenden Jahren vom Netz. Der notwendige Ausbau des Ökostroms aus Wind und Sonne aber stockt.
Politische Kosten: Ukraine-Verhandlungen könnten leiden
Ein Ausstieg aus Nord Stream 2 wäre aber auch eine Zäsur für die politischen Beziehungen zu Russland. Die Bundesregierung hat sich trotz aller Differenzen mit Putin bemüht, den Dialog aufrechtzuerhalten. Außenminister Heiko Maas (SPD) ist kürzlich zu seinem russischen Amtskollegen Sergej Lawrow nach Moskau gereist. Dabei ging es unter anderem um weitere Gespräche über eine Lösung des Konflikts in der Ostukraine unter deutscher und französischer Vermittlung. Eigentlich ist in den nächsten Wochen ein Außenministertreffen in Paris geplant. Ob das nun wirklich stattfinden wird, ist sehr fraglich.
Politische Nebenwirkung: Streitthema mit USA abgeräumt
Sollte die Bundesregierung Nord Stream 2 die Unterstützung entziehen, würde sie damit nicht nur klare Kante gegen Moskau zeigen, sondern gleichzeitig eines der Hauptstreitthemen mit den USA abräumen. USPräsident Donald Trump attackiert die Pipeline mit Sanktionen – es ist nicht davon auszugehen, dass sich das bei der Wahl seines Kontrahenten Joe Biden zum Präsidenten ändern würde.