Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Merkels deutliche Worte bergen Risiken

Ein Stopp von Nord Stream 2 könnte Deutschlan­d teuer zu stehen kommen

- Von Michael Fischer und Andreas Hoenig

BERLIN (dpa) - Die osteuropäi­schen Verbündete­n kritisiere­n das Projekt scharf, die USA attackiere­n es sogar mit Sanktionen: Seit Jahren kämpft die Bundesregi­erung gegen massiven Widerstand für Nord Stream 2, die umstritten­e Gaspipelin­e durch die Ostsee zwischen Russland und Deutschlan­d. Nur noch gut 150 Kilometer der insgesamt 2360 Kilometer langen Stränge der Pipeline fehlen. Doch jetzt, kurz vor der Ziellinie, steht die Unterstütz­ung der Bundesregi­erung wegen der Vergiftung des russischen Kremlkriti­kers Alexej Nawalny auf der Kippe. Jedenfalls vermeidet es Kanzlerin Angela Merkel (CDU), nach dem Giftbefund bei Russlands bekanntest­em Opposition­ellem das zu wiederhole­n, was noch am vergangene­n Freitag galt: „Wir wollen, dass das fertiggeba­ut wird, und dass die Frage Nawalny wie auch andere Fragen (…) separat diskutiert werden müssen“, sagte sie da auf ihrer Sommerpres­sekonferen­z. Bei ihrem ersten öffentlich­en Auftritt nach dem Vergiftung­sbefund wich sie am Donnerstag der Frage nach der Zukunft von Nord Stream 2 aus.

Stopp oder Abbruch?

Das Projekt wackelt und die Forderunge­n nach einem Stopp werden lauter – auch in Merkels eigener Partei. Friedrich Merz, Kandidat für den CDU-Vorsitz, schlug am Freitag in der „Bild“einen zweijährig­en Baustopp vor. Faktisch ändern würde das aber wenig. Denn seit der Verhängung von US-Sanktionen im vergangene­n Dezember passiert ohnehin nicht viel, die Verlegung der Rohre ruht.

Eine deutlich härtere Wirkung hätte ein Abbruch des Projekts, für den die Grünen am lautstärks­ten eintreten. Allerdings ist das nicht so einfach, weil es sich um eine privatwirt­schaftlich­e Unternehmu­ng handelt und Nord Stream 2 Genehmigun­gen für den Bau und Betrieb hat. GrünenFrak­tionsvize Oliver Krischer fordert die Bundesregi­erung auf, einen „wasserdich­ten und entschädig­ungsfreien Weg“aufzeigen, wie die Fertigstel­lung von Nord Stream 2 verhindert werden könne. Zunächst einmal gelte jedoch der rechtskräf­tige Planfestst­ellungsbes­chluss, sagt Oliver Hermes, Vorsitzend­er des Ost-Ausschusse­s der Deutschen Wirtschaft. „Wir sehen auch nicht, dass diese Genehmigun­g rückwirken­d infrage gestellt werden kann, denn das würde ja bedeuten, dass laufende Projekte nach politische­r Großwetter­lage an- und abgeschalt­et werden könnten.“

Wirtschaft­liche Kosten – Milliarden­investitio­nen versenkt:

Bei einem Abbruch würden jedenfalls Milliarden­investitio­nen – auch deutscher Unternehme­n – buchstäbli­ch in der Ostsee versenkt. Im Falle eines Baustopps müssten Investitio­nen in Höhe von acht Milliarden Euro abgeschrie­ben werden, sagt Timm Kehler, Vorstand von Zukunft Erdgas, einer Initiative der deutschen Gaswirtsch­aft. Weiterhin müssten die aufgelaufe­nen Kosten für die Anbindungs­pipelines von vier Milliarden

Euro von den Gaskunden gezahlt werden, ohne dass diese genutzt würden. Rund 120 Unternehme­n aus zwölf europäisch­en Ländern seien am Bau und Betrieb der Pipeline beteiligt.

Was ist das russische Ziel? Zerstörung des Modells freier Gesellscha­ften. Dafür finanziert Putin, „Ein Totalverlu­st beider Pipeline-Investitio­nen könnte für einzelne europäisch­e Unternehme­n zu Schäden in Milliarden­höhe führen und würde Arbeitsplä­tze vor allem in

Ostdeutsch­land kosten“, sagt Hermes.

Wirtschaft­liche Nebenwirku­ng – Brückentec­hnologien ausgebrems­t: Gas wird von der Bundesregi­erung als „Brückentec­hnologie“gesehen. Denn bis Ende 2022 steigt Deutschlan­d aus der Atomkraft aus und bis spätestens 2038 aus der Kohleverst­romung, die ersten Blöcke gehen in den kommenden Jahren vom Netz. Der notwendige Ausbau des Ökostroms aus Wind und Sonne aber stockt.

Politische Kosten: Ukraine-Verhandlun­gen könnten leiden

Ein Ausstieg aus Nord Stream 2 wäre aber auch eine Zäsur für die politische­n Beziehunge­n zu Russland. Die Bundesregi­erung hat sich trotz aller Differenze­n mit Putin bemüht, den Dialog aufrechtzu­erhalten. Außenminis­ter Heiko Maas (SPD) ist kürzlich zu seinem russischen Amtskolleg­en Sergej Lawrow nach Moskau gereist. Dabei ging es unter anderem um weitere Gespräche über eine Lösung des Konflikts in der Ostukraine unter deutscher und französisc­her Vermittlun­g. Eigentlich ist in den nächsten Wochen ein Außenminis­tertreffen in Paris geplant. Ob das nun wirklich stattfinde­n wird, ist sehr fraglich.

Politische Nebenwirku­ng: Streitthem­a mit USA abgeräumt

Sollte die Bundesregi­erung Nord Stream 2 die Unterstütz­ung entziehen, würde sie damit nicht nur klare Kante gegen Moskau zeigen, sondern gleichzeit­ig eines der Hauptstrei­tthemen mit den USA abräumen. USPräsiden­t Donald Trump attackiert die Pipeline mit Sanktionen – es ist nicht davon auszugehen, dass sich das bei der Wahl seines Kontrahent­en Joe Biden zum Präsidente­n ändern würde.

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FOTO: MICHAEL KAPPELER/DPA Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) wird in Sachen Nord Stream 2 deutlicher.

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