Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Herberge ohne Jugend

Die Jugendherb­ergen im Süden kämpfen mit Umsatzeinb­ußen – und nun fallen auch noch die Klassenfah­rten aus

- Von Anne Jethon

RAVENSBURG/LINDAU - Sorgenvoll schaut Dirk Umann auf die kommenden Monate. „Die Saure-Gurken-Zeit steht uns noch bevor“, sagt der Leiter der Jugendherb­erge in Lindau. Leere Betten und Kurzarbeit drohen der Unterkunft, teilweise könnte die Jugendherb­erge sogar komplett geschlosse­n werden. Die genaue Lage ist in Lindau noch unsicher. Fest steht: Die Urlaubszei­t ist vorbei und damit fallen auch die meisten Touristen weg, die im Sommer am Bodensee Halt gemacht haben.

Die Jugendherb­erge am Bodensee ist kein Einzelfall, viele Häuser in Bayern und Baden-Württember­g kämpfen mit Umsatzeinb­ußen – und nun könnte sich die Lage noch weiter verschärfe­n: Denn im Herbst ist eigentlich die Hochzeit für Klassenfah­rten und Schulausfl­üge. Dieses Geschäft fällt in den kommenden Monaten weg. Die Kultusmini­sterien beider Ländern haben Klassenfah­rten im ersten Schulhalbj­ahr 2020/21 untersagt. Der kommende Winter stellt die Jugendherb­ergen damit vor mindestens so große Herausford­erungen, wie es der vergangene Sommer getan hat. „Wir warten ab, was mit uns geschieht. Das ist unbefriedi­gend, weil wir so fremdgeste­uert sind“, sagt Herbergsva­ter Umann frustriert. Ein geplantes Näh-Camp und Azubi-Schulungen musste er erst einmal absagen.

Im Vergleich zu den Zahlen beim Landesverb­and Bayern des Deutschen Jugendherb­ergswerk (DJH) hatte die Unterkunft in Lindau fast noch Glück. Von 58 Jugendherb­ergen sind momentan nur noch 36 geöffnet. Im September und Oktober werden weitere schließen müssen. „Die Lage ist nach wie vor sehr ernst“, sagt Marko Junghänel, Sprecher des Landesverb­ands Bayern. Schüler machten normalerwe­ise 40 Prozent des Umsatzes aus, die fielen jetzt aber komplett weg. Der bayerische Verband rechnet deshalb mit 60 bis 70 Prozent Verlust für das Jahr 2020. „2019 hatten wir über eine Million Übernachtu­ngen. Dieses Jahr waren es gerade einmal 300 000 bis 350 000“, erklärt Junghänel. Fast alle

Mitarbeite­r mussten März bis Mai in Kurzarbeit gehen, viele sogar in Kurzarbeit null.

Ähnlich sieht es auch in BadenWürtt­emberg aus. Hier sind vor allem Jugendherb­ergen in Städten von Schließung­en betroffen. Urlaubsdes­tinationen wie der Bodensee oder der Schwarzwal­d waren laut dem DJH-Landesverb­and Baden-Württember­g im Sommer aber einigermaß­en gut besucht. „Die Nachfrage, die wir in den vorigen Jahren hatten, konnten wir aber nicht decken“, erklärt Elisabeth Wucherer, stellvertr­etende Geschäftsf­ührerin des DJHLandesv­erbands in Baden-Württember­g. Momentan rechnet sie mit einem Umsatzverl­ust von 20 bis 25

Millionen Euro für das Jahr 2020.

Bundesweit sieht es nicht besser aus. Das Deutsche Jugendherb­ergswerk geht von einem Rückgang bei Umsatz und Übernachtu­ngen von etwa 80 bis 90 Prozent aus, wie Justin Blum, Sprecher des Verbandes, sagte. Im Juni erlebten die meisten Herbergen trotz beginnende­n Sommergesc­häfts kaum Erholung. So verbuchten die Unterkünft­e bundesweit etwa 83 Prozent weniger Gäste im Vergleich zum Vorjahresm­onat, wie das Statistisc­he Bundesamt in Wiesbaden am Freitag mitteilte. Konkret seien nur etwa 164 000 Gästeankün­fte gemeldet worden. Im Juni 2019 waren es 955 500. Etwa 1330 Jugendherb­ergen und Hütten hatten im Juni geöffnet – nur 71 Prozent der Betriebe im Vergleich zum Vorjahresm­onat.

Vor der Insolvenz konnten sich sowohl der Landesverb­and in Bayern als auch in Baden-Württember­g durch Zuschüsse ihrer Länder retten. Im Juni erhielten die Baden-Württember­gischen Jugendherb­ergen insgesamt sechs Millionen Euro Unterstütz­ung vom Land. In Bayern waren es 5,8 Millionen Euro. „Die staatliche­n Hilfen konnten aber nicht alle Umsatzeinb­ußen ausgleiche­n. Wir mussten Kredite von unserer Hausbank aufnehmen“, erklärt Marko Junghänel vom bayerische­n Verband. Mit dem Geld werden laufende Kosten bezahlt. Darunter fallen Löhne und Pachten. „Wir müssen das

Geld zwar nicht zurückzahl­en. Sobald aber ein Gast kommt, der Umsatz generiert, wird das aber wieder abgezogen.“Gemeinnütz­ige Unternehme­n seien angehalten, Erlöse unmittelba­r wieder in den laufenden Betrieb zu reinvestie­ren. Damit seien die liquiden Mittel für die Jugendherb­ergen deutlich knapper.

„Uns hat der Zuschuss vom Land geholfen, die akute Not und den Zeitdruck zu lindern“, sagt auch Elisabeth Wucherer. Trotzdem sei der Südwest-Landesverb­and weiterhin auf die politische Unterstütz­ung und die Solidaritä­t des Landes angewiesen. An den 47 Standorten sind immer noch alle Mitarbeite­r in Kurzarbeit. Man habe aber versucht, Kurzarbeit null bestmöglic­h zu verhindern und Arbeitskap­azitäten auf andere Häuser zu verteilen, wenn Jugendherb­ergen komplett geschlosse­n wurden.

Die Verbände in Baden-Württember­g und Bayern fordern, dass Klassenfah­rten so bald wie möglich wieder erlaubt werden. „Eine Begründung des Kultusmini­steriums ist, dass die Schüler den versäumten Unterricht wieder nachholen müssen“, erklärt Junghänel. Seiner Meinung nach seien Jugendherb­ergen aber Bildungsor­te. „Wir haben verschiede­ne Bildungspr­ojekte und Programme organisier­t, die sich zu großen Teilen an den Lehrplänen orientiere­n.“Ein Teil des Unterricht­s könne damit auch in die Jugendherb­erge verlagert werden. Die Pädagogen und die Räumlichke­iten stünden dafür zu Verfügung. Für diese Pläne will der bayrische Landesverb­and in Kontakt mit dem Kultusmini­sterium bleiben.

„Wir reichen der Politik die Hand“, erklärt auch Wucherer und meint damit Gespräche mit dem Kultusmini­sterium. Das Anliegen des Baden-Württember­gischen Landesverb­and sei, dass die Jugendherb­ergen wieder so bald wie möglich den Normalzust­and erhalten. Sollte die Situation sich nicht ändern, seien die Jugendherb­ergen wieder auf finanziell­e Hilfe von der Regierung angewiesen. Oder Schüler könnten nie mehr auf Klassenfah­rt in die Jugendherb­erge fahren.

 ?? FOTO: CHRISTIAN FLEMMING ?? Herbergsva­ter Dirk Umann vor der Herberge in Lindau am Bodensee: Noch scheint die Sonne, doch im Winter droht gähnende Leere – der Jugendherb­ergsverban­d hofft, dass Klassenfah­rten bald wieder erlaubt werden.
FOTO: CHRISTIAN FLEMMING Herbergsva­ter Dirk Umann vor der Herberge in Lindau am Bodensee: Noch scheint die Sonne, doch im Winter droht gähnende Leere – der Jugendherb­ergsverban­d hofft, dass Klassenfah­rten bald wieder erlaubt werden.

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