Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Geld für Klicks
Wie baden-württembergische Influencer mit Videos im Internet ihren Lebensunterhalt verdienen
RAVENSBURG - Es ist dunkel, als sich Anne Kissner zum ersten Mal vor die Kamera stellt. Nach einem Arbeitstag in der Rechtsanwaltskanzlei ist die Sonne schon untergegangen, nur eine Wohnzimmerlampe spendet Licht für ihr erstes YouTube-Video, in dem die Freiburgerin Sportübungen zeigt. Aus dieser Idee im Winter 2013 ist einer der erfolgreichsten deutschen Fitnesskanäle auf der Videoplattform gewachsen. Rund 600 000 Abonnenten folgen Kissner auf ihrem Kanal „bodykiss“. Aus dem Hobby, kleine Filme zu drehen und im Internet zu veröffentlichen, ist ein Vollzeitjob geworden. Mit modernem KameraEquipment, Mitarbeitern und einer eigenen Produktmarke.
Anne Kissner ist kein Einzelfall. Viele Vertreter der Generation Internet haben die Videoproduktion für YouTube zu ihrem Beruf gemacht und verdienen damit ihren Lebensunterhalt. Denn Unternehmen können Werbeblöcke vor die Clips schalten. Je mehr Menschen sie anschauen, desto mehr Geld fließt an die Filmemacher. Wer so bekannt ist wie die 32jährige Kissner, bekommt außerdem eine Menge Kooperationsanfragen von Unternehmen. Sie wollen die YouTuber gegen Geld und Vergünstigungen dazu bewegen, ihre Produkte vor der Kamera zu zeigen, um Zuschauer zum Kauf zu animieren.
Über YouTube selbst kommt man nur schwer an Zahlen, wie lukrativ das Geschäft für sogenannte Influencer – englisch für Beeinflusser – bei der Videoplattform ist. Auf Anfrage der „Schwäbischen Zeitung“verweist das Unternehmen nur auf die absolute Zahl der Nutzer: weltweit mehr als zwei Milliarden. YouTube gehört zum Google-Imperium, die Holding des Suchmaschinenanbieters erlöste 2019 rund 162 Milliarden Dollar, 98 Milliarden Dollar stammen von Anzeigen rund um die Google-Suche, rund 15 Milliarden von YouTube-Werbespots und neun Milliarden von Google Cloud. Der Nettogewinn des Technologie-Unternehmens belief sich auf mehr als 34 Milliarden US-Dollar. Wie viel Anne Kissner und ihre Influencer-Kollegen von den Werbeumsätzen erhalten, ist unklar. Klar ist, viele können von den Einkünften rund um ihre YouTube-Videos leben.
Auf gerade einmal fünf Prozent schätzt Anne Kissner den Anteil der Werbeumsätze am Gesamtverdienst. Diese fließen neben den Sportvideos auch aus dem Kanal „bodyfood“, auf dem sich alles um Rezepte und gesunde Ernährung dreht. Anfangs habe sie ein paar Hundert Euro im Monat extra durch Werbung verdient. Heute sei es ein „sehr gutes Angestelltengehalt“, erklärt Kissner.
Von einer Videolänge von acht Minuten an darf Kissner selbst entscheiden, wie viel Werbung in ihren Videos laufen soll. Diese Zeit füllt Kissner locker mit einem Workout. Trotzdem will sie die nur ungern mit Werbung unterbrechen. „Da steckst du gerade mitten in einer Übung und dann kommt Werbung: Das will doch keiner.“Sie wolle ihre Zuschauer nicht vergraulen.
Mit zu viel Werbung schade man sich nur selbst, sagt auch Dejan Mihajlovic. Seine Social-Media-Marketingagentur Whitecast mit Sitz in Friedrichshafen vermarktet YouTuber. „Geld fließt nur, wenn der Nutzer die Werbung komplett anschaut.“Manche Werbeblöcke kann der Zuschauer überspringen. Bleibt er dran, teilt YouTube die Werbeerlöse. Laut Mihajlovic behält die Plattform 55 Prozent selbst ein, den Rest schüttet sie an die Produzenten aus. Sofern diese sich nicht selbst vermarkten, drücken sie noch einen Anteil an Agenturen wie Whitecast ab.
Neben dem Durchhaltevermögen der Zuschauer gibt es noch eine zweite unbekannte Variable bei der Werbung: die Attraktivität des Videoinhalts für Werbekunden. Statt Spots vor sämtliche Clips zu schalten, können Unternehmen nach Themen und Kanalgröße auswählen. Daher lasse sich nicht verallgemeinern, wie viel man mit einem Video verdiene, erklärt Mihajlovic. Das könnten 800 Euro sein, aber auch mal 4000. Besonders viel springe erfahrungsgemäß für Beauty, also Schmink- und Kosmetikkanäle, oder „Mamis“ab, die alles rund um ihre Schwangerschaft und den Alltag mit Kind teilen.
„Das habe ich nicht ausgeschlachtet. Dann hätte ich mein Kind zeigen müssen“, sagt Sissi Kandziora, Youtuberin aus Konstanz. Im vergangenen Jahr hat sie es bei einem Verkündungsvideo
zu ihrer Schwangerschaft belassen. Und schon allein damit 1500 Abonnenten dazugewonnen. Insgesamt folgen ihr mehr als 250 000 Menschen auf YouTube. Mit dieser Kanalgröße liegt sie eher im Mittelfeld. Aber es gehe ja nicht nur um eine gute Statistik, betont Kandziora. Wer nur über Themen spreche, weil sie Erfolg versprechend sind, verliere an Glaubwürdigkeit und damit auch Zuschauer.
Wenn sie sich verändert, passe sie ihre Kanalthemen an, sagt Kandziora. Früher zeigte sie regelmäßig neue Klamotten und animierte ihre Zuschauer zum Shoppen. Dabei verfiel sie selbst einer Kaufsucht. Inzwischen hat sie diese überwunden und spricht lieber über Minimalismus, Glück oder Selbstorganisation. Auch bei Kooperationsanfragen von Unternehmen siebe sie im Gegensatz zu damals gründlicher aus. Sie werbe nur noch für Produkte, die sie sich nicht nur schenken lassen, sondern auch selbst kaufen würde. „Arbeite ich mit der falschen Firma zusammen, beschädigt das mein Image. Das verzeiht man mir nicht. Das ist wie bei einer guten Freundin, die dich hintergeht.“Im Jahr komme sie damit vielleicht noch auf maximal fünf Produktplatzierungen. Trotzdem kann Kandziora nicht leugnen: Werbedeals sind ein lukratives Geschäft, mit denen sich „auf einen Schlag“viel Geld verdienen lasse.
Manchmal sogar mehr als ein Jahresgehalt, rechnet Dejan Mihajlovic für einen der erfolgreichsten YouTuber seiner Agentur vor. Ein Computerspieler, der beim Zocken seinen Bildschirm mit den Zuschauern teilt. Für 1000 Kontakte, die er erreicht, verdient dieser 80 Euro. „Das Video bekommt im Schnitt 800 000 Klicks. Das sind schnell mal 64 000 Euro für eine Produktplatzierung.“Manchmal bekommen YouTuber auch Geld, wenn sie Produktlinks unter ihren Videos teilen. Dann wird nach Klickzahlen vergütet. Kauft ein Fan über den Link ein, wird der YouTuber mit einer Provision beteiligt.
Mehr Fans, mehr Klicks, mehr Geld? Nicht unbedingt. Auch YouTuber mit kleineren Reichweiten hätten ihren Preis, sagt Mihajlovic. Wer Videos zu einem Nischenthema dreht und treue Fans hat, könne mit 1000 Kontakten ähnlich viel verdienen. Wichtiger Indikator für die Zuschauerbindung bei der Kalkulation sei mitunter die sogenannte Watch-Time. Also die Zeit, die der Zuschauer bei einem Video dranbleibt. Springen die Nutzer schnell ab, sinkt auch die Zahlungsbereitschaft des Unternehmens. Allein dürfe die Reichweite den Preis aber nicht bestimmen, warnt Sissi Kandziora. „Neben der Reichweite verkaufe ich auch Arbeitszeit. Ich weiß, was meine Stunde wert ist“, sagt die Grafikdesignerin, bei der YouTube anfangs immer nur nebenher lief.
Martin Luzie hat sich vollkommen reingestürzt in das Geschäft mit der Videoplattform. Nach der Schule gründete er gleich eine eigene Produktionsfirma in seiner Heimat Rastatt. Ein Ein-Mann-Betrieb, der ab und zu auch mal für Kunden produziert. Die meisten Videos sind für seinen YouTube-Kanal „Football4Broz“. Vier, weil Luzie zusammen mit drei Freunden bei Fußballchallenges zu sehen ist oder Tipps zum Training und zur Ausrüstung gibt. Um Drehbuch, Equipment und Schnitt kümmert sich Luzie aber allein. Mit allem Drum und Dran komme er wohl auf 70 Wochenstunden. „Das Stresslevel ist extrem hoch, gerade auch weil wir nicht zu Hause, sondern auf dem Fußballplatz drehen. Wer kann wann, wann sind Plätze verfügbar?“, listet Luzie nur einen Bruchteil seiner Aufgaben auf. Und selbst, wenn das Video im Kasten und Tage später hochgeladen ist, hört die Arbeit nicht auf. Jeden Samstag, 11 Uhr, geht eins online. „Dann sitze ich erst mal ein bis zwei Stunden am Rechner. Gerade die ersten Kommentare sind mir sehr wichtig. Die kommen von aktiven Zuschauern, die ihren Tagesplan nach den Videos richten.“
Luzie lebt von Werbeeinnahmen und Kooperationen. Um seine Kosten zu decken, müssen es aber schon mindestens zwei im Monat sein. Dafür sei sein Kanal mit 129 000 Abonnenten einfach zu klein. Anne Kissner ist unabhängiger. Sie verdient ihr Geld vor allem mit einem eigenen Sportprogramm und eigenen Sportgeräten. Eine Fitnessmode-Kollektion ist gerade in Arbeit. YouTube sei aber 90 Prozent Zugpferd, damit das Geschäft laufe, erklärt Kissner. Auch Sissi Kandziora verlässt sich nicht nur auf Webvideos. Damit bleibe sie finanziell von Kooperationen unabhängig und könne diese nach Inhalt auswählen. Die Konstanzerin coacht nebenbei andere Unternehmen im Bereich Social Media und YouTube und veröffentlicht im Herbst einen YouTube-Online-Kurs.
Werbung allein sei eben kein Geschäftsmodell, erklärt Nils Högsdal von der Hochschule der Medien. Es brauche mehrere Erlösströme. Zwar ließen sich einfache Videos heutzutage ohne technische Hürden drehen und hochladen. Aber der YouTubermarkt sei langsam gesättigt. „Risiko ist die Konkurrenz um Aufmerksamkeit. Außerdem werden die Nutzer älter, haben andere Interessen.“Daher müsse man seinen Kanal thematisch immer wieder anpassen und regelmäßig Videos hochladen.
Es braucht vor allem Ausdauer. Denn die meisten Videos bleiben den Zuschauern verborgen. Laut Studie des US-amerikanischen Datenanalysten Pex bekommen 91 Prozent aller YouTube-Videos noch nicht einmal 1000 Klicks. Obwohl ihre Reichweite seit dem ersten Video stetig gewachsen ist, schließt Anne Kissner nicht aus, irgendwann auch wieder uninteressanter zu werden für die Zuschauer. Aber sorgen brauche sie sich nicht. Im Zweifel kehrt sie wieder in ihren alten Job zurück. Schwarze Robe statt Sportleggings. Sicherheit im Job statt der Unberechenbarkeit der Internetnutzer.