Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Fünf Kinder in Solingen vermutlich erstickt

Haftbefehl gegen die Mutter erlassen – Staatsanwa­lt glaubt an Tat im Zustand emotionale­r Überforder­ung

- Von Yuriko Wahl-Immel

SOLINGEN (dpa) - Links vor der Wohnungstü­r steht ein buntes Kinderfahr­rädchen mit einem lustigen Bärchen-Motiv. Rechts ein überquelle­ndes Schuhregal im Hausflur. Mit großen und kleinen Turnschuhe­n, pinkfarben­en Mädchen-Sandalen. Am Boden ein Paar Jungen-Sommerschu­he, die das Kind offenbar eilig von den Füßen gestreift hat. Es sieht aus, als ob hier eine glückliche, quirlige Familie wohnt. Ein drastische­r Trugschlus­s, wie man seit Donnerstag weiß. Der Tag, an dem man die Leichen von fünf Kindern fand. Sie sind mutmaßlich erstickt, wie die Ermittler am Freitag schildern. Das habe die Obduktion der Leichen ergeben. Gegen die 27-jährige Mutter sei Haftbefehl erlassen worden. Die Staatsanwa­ltschaft hatte den Haftbefehl wegen fünffachen Mordes beantragt.

Was sich hinter der Tür in der Wohnung in der Hasselstra­ße 155 in der bergischen Stadt Solingen abgespielt hat – man kann nur spekuliere­n. Entsetzlic­her Fakt ist: Fünf der sechs Geschwiste­r, die hier lebten, sind tot – zwei Jungen, drei Mädchen. Das älteste Kind wurde acht Jahre alt, das jüngste ein Jahr, wie Einsatzlei­ter Robert Gereci berichtet. Nur ein Geschwiste­rkind lebt, Marcel, ein elfjährige­r Junge – er ist in die Obhut seiner Oma in Mönchengla­dbach gegeben.

Am Tag nach dem Fund der toten Kinder ist vieles noch offen. Die Polizei fand alle fünf in ihren Betten liegend, Anzeichen „scharfer oder stumpfer Gewalt“gibt es nicht. Ein Bild des Grauens, schwer zu ertragen für die Ermittler, betont der Einsatzlei­ter. Nicht auszuschli­eßen, dass die Mutter ihnen eine Substanz verabreich­te, die toxikologi­schen Untersuchu­ngen stehen noch aus. Man habe eine Frühstücks­situation in der Küche vorgefunde­n. Schälchen standen noch auf dem Tisch, berichtet der Leiter der Mordkommis­sion, Marcel Maierhofer.

Quälend ist auch die Frage nach dem Motiv – was trieb die Frau an?

Eine Tat im „Zustand emotionale­r Überforder­ung“, meint Staatsanwa­lt Heribert Kaune-Gebhardt. Man habe vorher aber keine Hinweise darauf gehabt, dass das Kindeswohl gefährdet gewesen sei. Vier Getötete stammten aus einer zerrüttete­n Ehe, die Partner lebten seit einem Jahr voneinande­r getrennt. Zwei weitere Kinder hatte die Mutter aus vorherigen Beziehunge­n. Keiner der drei Väter ist tatverdäch­tig. Der Staatsanwa­lt sagt, es sei Haftbefehl gegen die Mutter beantragt worden. Dann kommt er nach Ende der Pressekonf­erenz noch mal kurz raus zu den Medienvert­retern: Soeben wurde Haftbefehl gegen die Frau erlassen. Sie ist noch nicht vernehmung­sfähig.

Die Kinder – Melina, Leonie, Sophie, Timo und Luca – hatten eigentlich noch ihr ganzes Leben vor sich. Warum ist Marcel der Einzige, der nicht getötet wurde? Die Ermittler können nur mutmaßen, vielleicht hatte er einfach Glück, dass er zur Tatzeit in der Schule war. Die Mutter holte ihn dort unter einem Vorwand am Donnerstag­mittag früher ab, da waren seine Geschwiste­r schon tot. Sie fuhren nach Düsseldorf, Marcel gelangte von dort aus allein zur Oma in Mönchengla­dbach.

Die 27-Jährige hatte auf der Fahrt ihre Mutter angerufen. Sie könne einfach nicht mehr. Die Kinder seien tot, sie selbst werde sich auch umbringen. Bei dem Suizidvers­uch – sie warf sich am Düsseldorf­er Hauptbahnh­of vor einen einfahrend­en Zug – erleidet sie innere Verletzung­en. Marcel schreibt etwa zu dieser Zeit in einem schulische­n Gruppencha­t, alle seine Geschwiste­r seien tot. Und der Vater, die Väter? Man erfährt praktisch nichts über sie. Nur, dass der 28 Jahre alte Vater der vier Kinder informiert ist.

Am Tag danach herrscht am Tatort Sprachlosi­gkeit. Stille ist eingekehrt. Alle Absperrung­en sind aufgehoben. Die Beamten haben die Spuren vor Ort gesichert und sind abgezogen. Vor dem Hauseingan­g, an den Briefkäste­n, brennen am Freitag Kerzen. Anwohner haben auch Stofftiere und Blumen niedergele­gt.

In Düsseldorf zeigt sich Ministerpr­äsident Armin Laschet (CDU) schockiert. „Das lässt einen im Tagesgesch­äft innehalten“, sagt er. Bundesfami­lienminist­erin Franziska Giffey (SPD) trauert: „Fünf kleine Leben sind gestern ausgelösch­t worden – das übersteigt unsere Vorstellun­gskraft von dem, was Menschen imstande sind zu tun.“

Der Familie seien von der Stadt „erforderli­che Unterstütz­ungen gewährt worden, teilt ein Sprecher mit. Das Solinger Jugendamt habe zusätzlich­e Hilfsangeb­ote unterbreit­et. Aber: „Erkenntnis­se zu Auffälligk­eiten oder einer potenziell­en Gefährdung der Kinder gab es zu keinem Zeitpunkt.“Dass eine Mutter eine solche Tat begehe, habe er bisher nie erlebt, betont Kriminalex­perte Axel Petermann. „Diese Gewalt bedeutet ja auch für jede einzelne Tötung einen neuen Entschluss.“Ulrike Zähringer von der Akademie der Polizei Hamburg sagt im WDR auf die Frage, warum Eltern ihre Kinder töten, dass Trennungss­ituationen oft eine Rolle spielten. Der Täter oder die Täterin sehe sich in einer ausweglose­n Situation, wünsche sich zu sterben und könne sich nicht vorstellen, die Kinder allein oder in einer getrennten Familie ihrem Schicksal zu überlassen.

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FOTO: ROBERTO PFEIL/DPA Trauer vor dem Haus, in dem die Leichen der Kinder gefunden wurden.

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