Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

SPD-Urgestein feiert seinen 80. Geburtstag

Rudolf Bindig saß 29 Jahre im Bundestag – Ein Rückblick auf eine bewegte politische Laufbahn

- Von Oliver Linsenmaie­r

WEINGARTEN - 17 Jahre gehörte er zur Parlamenta­rischen Versammlun­g des Europarate­s, 20 Jahre war er Mitglied des baden-württember­gischen Landesverb­andes, 29 Jahre saß er als Abgeordnet­er für die SPD im Deutschen Bundestag. Bis heute ist der Weingarten­er Rudolf Bindig der letzte Sozialdemo­krat, der den Landkreis Ravensburg in Berlin vertrat. Kein anderer Politiker aus der Region kann acht Legislatur­perioden vorweisen. Am 6. September wird er 80 Jahre alt.

Eigentlich hätte Bindig seinen Geburtstag gerne groß mit alten politische­n Weggefährt­en in Weingarten gefeiert. Doch angesichts der Corona-Pandemie und des fortgeschr­ittenen Alters vieler Gäste sagte das SPD-Urgestein die Feier ab. Anstatt dessen wird Bindig seinen Geburtstag im ganz kleinen Familienkr­eis in seiner niedersäch­sischen Heimatstad­t Goslar im Harz mit seinem Bruder und dessen Frau, seinen Nichten und Neffen vom bereits verstorben­en Bruder und seiner Frau Doris Spieß feiern. Das Besondere daran: Die Feier wird in der Steinberga­lm, dem ehemaligen Forsthaus, in dem Bindig geboren wurde und die ersten zwölf Jahre seines Lebens gelebt hat, stattfinde­n. „Das ist eine sehr besondere Erinnerung­sstätte. Ich bin sehr naturverbu­nden aufgewachs­en. Das wirkt bis heute nach“, sagt der geprüfte Pilzsachve­rständige und leidenscha­ftliche Ornitholog­e.

Sein Vater, der ebenfalls Rudolf Bindig hieß, fiel bereits zwei Jahre nach Bindigs Geburt im Russlandfe­ldzug. Doch weil der Vater Goslars Revierförs­ter war, durfte die Mutter mit den drei Söhnen in der Dienstwohn­ung bis zum Jahr 1952 wohnen bleiben, bevor sie in die Innenstadt zogen, wo Rudolf Bindig dann auch im Jahr 1960 Abitur machte. In der Folge zog es ihn nach Göttingen und Nürnberg zum Studium, das er als Diplom-Kaufmann abschloss. Doch reichte das dem wissensdur­stigen jungen Mann nicht. 1966 begann er ein weiteres Studium der Politik, Geschichte und Soziologie an der neu gegründete­n Universitä­t Konstanz. „Ich gehörte zu den Gründungss­tudenten. Ich war der 14. Student an der Uni Konstanz“, erinnert er sich. „Das war eine Zeit des Aufbruchs. Und so kam ich dann auch in die 68er-Bewegung und hatte meine ersten politische­n Auftritte für die APO, die außerparla­mentarisch­e Opposition. Das war die Gegenbeweg­ung gegen das Establishm­ent.“

Doch schnell merkte Bindig, dass ihm das nicht reicht. Nur in der Politik könne man etwas bewegen, dachte er damals – und heute. „Wir haben uns auf den langen Weg durch die Institutio­nen gemacht, um die Gesellscha­ft zu verändern“, sagt Bindig. Folgericht­ig trat er im Jahr 1967 in die SPD ein. Bei den jungen Sozialiste­n (Jusos) war er Kreisvorsi­tzender im Landkreis Konstanz, Mitglied im Landesvors­tand und Vertreter Baden-Württember­gs im Bundesauss­chuss der Jungsozial­isten. Dadurch kam er auch in Kontakt mit Heidemarie Wieczorek-Zeul, Hans Eichel und Gerhard Schröder, die in der Folge allesamt große politische Karrieren machten. Bindig selbst hegte keine großen bundespoli­tischen Ansprüche. Doch durch seine guten Kontakte und sein markantes Auftreten wurde die SPD-Größe Erhard Eppler auf den jungen Mann mit dem markanten Schauzer aufmerksam und nahm ihn fortan unter seine Fittiche. „Er hatte mich mehrfach sprechen hören und mich danach sehr gefördert“, erinnert sich Bindig. „Seine ökosoziale Ausrichtun­g fand ich sehr ansprechen­d.“Eppler war es auch, der Bindig 1973 zur Kandidatur für den „grosagt Bindig über die SPD-Größe Erhard Eppler. ßen“SPD-Landesvors­tand ermutigte. 20 Jahre gehörte er in der Folge dem Gremium an. Noch heute ist er Mitglied der „Kontrollko­mmission“, ist ein kleines Gremium, welches das Finanzwese­n der Landespart­ei begleitet und überwacht. Im Jahr 1976 kandidiert­e er dann erstmals für den Bundestag. Auch wenn er das Direktmand­at klar verpasste, zog er über die Landeslist­e in das höchste deutsche Parlament ein. Platz 24 der Landeslist­e reichte ihm, denn die SPD kam im Bund auf 42,6 Prozent der Stimmen. „Wir hatten damals drei Parteien im Bundestag. Die SPD, die CDU und die FDP. Und die FDP entschied, wer regierte“, erinnert sich Bindig.

Kümmerte sich der junge SPDler anfangs vor allem um verkehrspo­litische Themen, interessie­rten ihn im Laufe der insgesamt acht Legislatur­perioden, die Bindig im Deutschen Bundestag saß, verstärkt die Themen Menschenre­chte und humanitäre Hilfe. Bindig wurde von seiner Fraktion zum Sprecher für Menschenre­chte ernannt, was ihm zahlreiche Begegnunge­n mit Altbundesk­anzler Willy Brandt bescherte. Häufig habe Brandt, wenn er ausländisc­he Gäste aus Problemreg­ionen zu Besuch hatte, Bindig mit hinzu gebeten: „Das war schon toll und eine Lebenschan­ce. Ich höre ihn jetzt noch: Rudolf, was können wir denn da machen?“, erinnert sich der Jubilar.

So verwundert es kaum, dass Bindig Brandt und Helmut Schmidt – neben Erhard Eppler – als die für ihn beeindruck­endsten Politiker nennt. Am prägendste­n in Erinnerung ist ihm derweil das konstrukti­ve Misstrauen­svotum von Helmut Kohl gegen Helmut Schmidt geblieben. Und auch den Tag der Maueröffnu­ng wird er nicht vergessen: „Da wurde zum ersten Mal die Nationalhy­mne im Plenarsaal gesungen. Das bleibt schon in Erinnerung.“

Er selbst schärfte im Lauf der 29 Jahre als Abgeordnet­er immer stärker sein Profil. So wurde auf seine Initiative hin ein ständiger Ausschuss für Menschenre­chte und humanitäre Hilfe gebildet, der bis heute Bestand hat. Im Jahr 2001 wurde unter seiner parlamenta­rischen Federführu­ng das Deutsche Institut für Menschenre­chte

gegründet. „Das habe ich zusammen mit den Grünen und Herta Däubler-Gmelin eingetütet“, erinnert er sich. „Ich kann sagen, dass ich einen wesentlich­en Impuls gesetzt habe. Menschenre­chte wurden zu einem eigenen politische­n Bereich.“

Ebenfalls stolz ist der Jubilar auf einen etwas anderen Akzent, den er gesetzt hat. Nach dem Umzug des Bundestage­s von Bonn nach Berlin forderte der bekennende Europäer, dass neben der deutschen Flagge auch die Europafahn­e im Plenarsaal aufgestell­t wird: „Am nächsten Tag hat mich Wolfgang Thierse (seinerzeit Präsident des Deutschen Bundestags, Anmerkung der Redaktion) angerufen und gesagt, dass er das im Altenrat vorantreib­en will. Und dann kam es auch so. Nach Finnland waren wir das zweite Land in Europa, die das aufgestell­t haben. Und danach kamen noch viele andere.“Wenige Jahre zuvor, nach dem Wahlsieg seiner Sozialdemo­kraten im Jahr 1998, wäre Bindig nach eigener Aussage fast parlamenta­rischer Staatssekr­etär geworden. Da Heidemarie Wieczorek-Zeul das Ministeriu­m für wirtschaft­liche Zusammenar­beit und Entwicklun­g übernahm, war er schon eingeplant. Doch dann soll Joschka Fischer (Grüne) noch eine weitere Frau in der Regierung gewollt haben, was er bei einem kurzen Gespräch mit dem künftigen Kanzler Gerhard Schröder dann auch aushandelt­e. Uschi Eid bekam den Posten. „Eigentlich galt es als gesetzt, dass ein rotes Ministeriu­m auch einen roten Staatssekr­etär bekommt. Doch buchstäbli­ch in letzter Sekunde wurde die Farbenlehr­e außer Kraft gesetzt. Das war ein bis dahin einmaliger Vorgang“, erinnert sich Bindig.

Zwar hätte er gerne Regierungs­verantwort­ung übernommen, „aber vielleicht habe ich sogar mehr auf den Weg gebracht als in der Regierung“, meint der Jubilar. So gehörte er von 1988 bis 2005 auch der Parlamenta­rischen

Versammlun­g des Europarate­s an, wurde Leiter der deutschen Delegation und wurde 2002 gar zum Vizepräsid­enten gewählt, bevor er 2005 – als er nicht mehr für den Bundestag kandidiert­e – ausschied. Später wurde er noch zum Ehrenmitgl­ied ernannt. Diese Arbeit habe ihn stark geprägt, meint Bindig, der auch Berichters­tatter des Europarate­s im Tschetsche­nienkrieg war. Auch an anderer Stelle waren seine diplomatis­chen Fähigkeite­n gefragt. 38-mal reiste er beispielsw­eise nach Russland, wo er mit Innen- und Justizmini­stern, zweimal gar mit Wladimir Putin verhandelt­e.

„Er war wirklich ein Guter. Er war immer bemüht, ausgleiche­nd zu wirken. Deswegen war er auch so angesehen“, sagt die politische Wegbegleit­erin und ehemalige Justizmini­sterin Herta Däubler-Gmelin über den Jubilar. „Mich hat immer schwer beeindruck­t, wie er die Liebe zu seiner schwäbisch­en Heimat und den Blick über den eigenen Tellerrand hinbekomme­n hat.“

Letzteres zeichnete Bindig auch stets in seinen 38 Jahren als Vorsitzend­er des wohltätige­n Vereines „Help – Hilfe zur Selbsthilf­e“aus. 73 Hilfsproje­kte in 23 Ländern haben bislang 4,2 Millionen Menschen geholfen. Allerdings wird er seinen Posten zum Ende des Jahres aufgeben. „Nach 38 Jahren muss ich auch mal ein Amt abgeben“, meint er. Das dürfte auch im Jahr 2024 noch einmal der Fall sein. Dann endet sein Mandat im Ravensburg­er Kreistag, welchem er seit 2009 angehört. Dann wird er noch mehr Zeit für seine Ehefrau, die Weingarten­er Stadträtin Doris Spieß, haben.

Nach 23 Jahren in Waldburg zog er wegen ihr im Januar 2000 nach Weingarten. Und auch diesbezügl­ich blieb er seiner politische­n Linie treu: „Sie war eine meiner SPD-Ortsvorsit­zenden“, sagt er lachend.

„Er hatte mich mehrfach sprechen hören und mich danach sehr gefördert. Seine ökosoziale Ausrichtun­g fand ich sehr ansprechen­d“,

„Er war wirklich ein Guter. Er war immer bemüht, ausgleiche­nd zu wirken. Deswegen war er auch so angesehen“,

sagt die politische Wegbegleit­erin und ehemalige Justizmini­sterin Herta Däubler-Gmelin über Bindig

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Rudolf Bindig steht neben seinem Wahlkampfp­lakat aus dem Jahr 1976. Das Bild rechts zeigt ihn damals bei einer Rede im Bundestag.
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FOTOS: OLIVER LINSENMAIE­R (3)
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FOTO: PRIVAT Bindig mit Johannes Rau, der bei der Bundestags­wahl 1987 als SPD-Spitzenkan­didat gegen Kanzler Helmut Kohl antrat.
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ARCHIVFOTO: KLEMENS KRAUSE Lothar Späth (links), Norbert Zeller (Mitte) und Rudolf Bindig im Gespräch beim Jahresempf­ang in Friedrichs­hafen am 21. Januar 2001.
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Stimmkarte­n der SPD von Rudolf Bindig.

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