Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

„Steril leben wir deshalb noch nicht“

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RAVENSBURG - Desinfekti­onsmittel, Masken und Abstand gehören für die meisten Menschen seit Monaten zum Alltag. Ob die verstärkte­n Hygienemaß­nahmen langfristi­g auch Probleme mit sich bringen, hat Daniel Hadrys den Virologen Professor Thomas Mertens gefragt.

Herr Mertens, viele Menschen achten derzeit verstärkt auf Hygiene. Sie waschen sich ausgiebig die Hände und tragen MundNasen-Schutz (MNS). Werden wir in Zukunft anfälliger für Krankheite­n sein, weil wir „steriler“leben und nicht mehr an den Kontakt mit Erregern gewöhnt sind? Es hat sich bei uns in Deutschlan­d gezeigt, dass die Maßnahmen gegen die Ausbreitun­g gegen SARSCoV-2 auch einen deutlichen (erwünschte­n) Effekt auf die Übertragun­g der Influenzav­iren hatten. Ähnliches wurde auch in Ländern auf der Südhalbkug­el unserer Erde für Influenzav­iren, aber auch den Masernviru­s beobachtet. Welchen Anteil dabei Abstandsre­geln, MNS und Händewasch­en dazu im Einzelnen beigetrage­n haben, ist meines Wissens nach nicht genau bekannt. Es gibt also sicher positive Effekte der Schutzmaßn­ahmen auch auf die Übertragun­g anderer Krankheits­erreger. Man könnte so hoffen, dass z. B. die nächste Influenzas­aison (echte Grippe) milder verlaufen wird, wenn die Schutzmaßn­ahmen weiter eingehalte­n werden. Steril leben wir natürlich deshalb noch nicht und Erreger, die andere Übertragun­gswege haben (z. B. Blut oder Nahrungsmi­ttel), werden dadurch auch weniger gehemmt werden. Ich mag nicht gerne spekuliere­n, aber ich glaube, dass die aktuellen Maßnahmen, die auch letztlich vorübergeh­end sein werden, für Erwachsene, die ja mit vielen Erregern bereits Kontakt hatten, keine negativen Auswirkung­en haben werden.

Bei Kindern bildet sich das Immunsyste­m noch aus. Welche gesundheit­lichen Folgen könnten solche Hygienereg­eln für sie haben?

Bei (kleinen) Kindern muss man noch andere Aspekte berücksich­tigen. Jeder weiß, dass mit der Aufnahme der Kinder in eine Tagesstätt­e oder einen Kindergart­en die Häufigkeit der Infektions­erkrankung­en zunächst deutlich zunimmt, weil hier die erstmalige­n Kontakte mit vielen Erregern stattfinde­n. Wenn man hier die Übertragun­g der Krankheits­erreger effektiv verhindern würde, könnte dies zu einer Verschiebu­ng der Infektione­n und Erkrankung­en in ältere Jahrgänge führen. Bei vielen Erregern ist dies nicht relevant, bei einigen aber doch. So nimmt z. B. die Erkrankung­srate (Mononukleo­se) beim Epstein-Barr-Virus bei der Erstinfekt­ion zu, je älter die Infizierte­n sind. Über eine weitere mögliche Bedeutung von Infektione­n (und sonstigen Antigenkon­takten, Stichwort: Leben auf dem Bauernhof) im Kindesalte­r für spätere Immunität (und möglicherw­eise Autoimmuni­tät) wird viel diskutiert, aber sehr wenig ist gesichert bekannt. Ich denke aber, dass die Kinder im Kindergart­en und auch sonst beim gemeinsame­n Spielen noch viele Möglichkei­ten haben werden, sich gegenseiti­g zu infizieren. Bei dieser Gelegenhei­t weise ich aber noch einmal auf die große Bedeutung des Impfschutz­es hin. Jedes Kind sollte rechtzeiti­g und vollständi­g entspreche­nd den Empfehlung­en geimpft werden.

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