Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Schockiert, aber nicht überrascht
Jüdische Frauen berichten nach dem Anschlag auf die Synagoge in Halle über ihre Erfahrungen
Wenn heute in Berlin mit einem Festakt das 70-jährige Bestehen des Zentralrats der Juden in Deutschland begangen wird, dürfte auch die Erinnerung an den Anschlag auf die Synagoge in Halle präsent sein. Der Attentäter Stephan B. wollte so viele Juden wie möglich töten. Wie durch ein Wunder gelang es ihm nicht, die schwere Holztür zu öffnen, die Betenden überlebten, er tötete wahllos zwei Menschen in der Nähe.
Was folgte in der deutschen Öffentlichkeit? Schuldgefühle, Beteuerungen, man müsse den Antisemitismus überall bekämpfen, ihm entschieden entgegentreten, gibt es nach jedem Anschlag. Aber kaum einer ist vergleichbar dem Attentat von Halle – das zeigt das Buch „Halle ist überall“. Nea Weissberg, die in ihrem Lichtig-Verlag Literatur der jüdischen Gegenwart und Geschichte herausbringt, hat die Stimmen jüdischer Frauen gesammelt. 20 Autorinnen berichten, wie sie den Anschlag beurteilen, ob und wie viel Angst sie haben, und sie sprechen damit verbunden über ihre ganz persönlichen Erlebnisse und Familiengeschichten.
Zwei Dinge werden dabei erschreckend klar: Halle, der Anschlag auf die Synagoge am höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur, traf die Juden ins Herz. Ein Angriff auf einen heiligen Raum in einer heiligen Zeit – das erinnerte an die Shoah. Bedrückend ist: Jede der Frauen war schockiert nach dem Anschlag von Halle, aber keine war überrascht. „Halle war nicht der erste Schockmoment in meinem Leben als Jüdin, und er wird nicht der letzte sein“, sagt die
Journalistin Alexandra Jacobson. Ihre Großmutter Lina Mayer wurde von den Nazis ermordet. Und der Stolperstein, der in der Bopparder Fußgängerzone an sie erinnern sollte, wurde zwei Tage nach der Verlegung herausgerissen.
Es sind Erlebnisse und Reflektionen wie diese, die das Buch zu einer schweren Lektüre machen. Der Leser fragt sich: Schwankt der Boden immer noch – oder schon wieder?
Nea Weisberg hat Frauen mit ganz unterschiedlicher Herkunft und Alter befragt. Romina Wiegemann, 1980 geboren, fühlt am Abend des 9. Oktober 2019, dass sie mit Menschen zusammen sein will, deren Welt nun auch nicht mehr die gleiche ist. „Die Wahrnehmung, dass der Anschlag im Land des ,Nie wieder’ für sehr viele Menschen nicht mehr als eine Fußnote im Weltgeschehen darstellt, bleibt ungeachtet aller bisherigen Erfahrungen befremdlich.“
Den Betenden ist nichts passiert, schreibt Claudia Münz, emeritierte Professorin in Kaiserslautern. Sie besinnt sich auf ihre Großeltern und sagt: „Mutig sein, stark bleiben!“
Luba Meyer, 1985 geboren, war selbst in der Synagoge in Halle, als der Anschlag passierte. Sie erinnert sich, dass man den Gottesdienst beendete, in dem man tanzte und voller Dank an den Schöpfer das Leben feierte. Aber sie denkt auch an die vom Attentäter getöteten zwei Passanten. „Wie entsteht Menschenhass und Hass gegen Juden?“, fragt sie. Und am Ende auch: „Wird Deutschland für immer mein Zuhause bleiben?“
All diese Frauen berichten auch über ihre Familien. Darüber, dass es nicht nur die Deutschen waren, die aus Scham über die Nazi-Gräuel geschwiegen haben, sondern auch die Opfer, die sich nicht an ihre Demütigungen, Folter und Qualen erinnern wollten. Immer wieder treibt die
Frauen die Frage nach den Ursachen um. Nimmt Antisemitismus in Deutschland wieder zu? Rebekka Nieten, die sich ehrenamtlich für den Dialog zwischen Juden, Christen und Muslimen einsetzt, weiß, dass es nicht einfacher geworden ist, nachdem 2015 auch viele Menschen aus bildungsfernen, muslimischen Kreisen nach Deutschland kamen. Doch Muslime in Deutschland könnten nicht an ihrem Judenhass festhalten, sagt sie und zitiert Michael Wolffsohn: „Neue Deutsche, das bedeutet auch die Notwendigkeit einer neuen Gedenkkultur“.
Nelly Alfandari, eine 40-jährige Lehrerin, die in Barcelona lebt, bringt die Verzweiflung vieler auf den Punkt. Der Holocaust werde als solcher in der Vergangenheit gelassen, während tagtägliche Alltagsrassismen und Gewalt ignoriert würden, „und sich anstelle dessen für die Vergangenheit schuldig gefühlt wird bis zu dem Punkt, dass es allen zum Hals herabhängt und wir dann als Juden noch dafür schuldig gemacht werden, dass sich die Deutschen immer noch schuldig fühlen müssen“. Das sei ein Armutszeugnis für eine fehlgeschlagene Bildungspolitik. Auch Jutta Prajs, 1947 in Polen geboren, fragt sich, wo die gesellschaftlichen, wo die politischen Reaktionen bleiben, wenn Kräfte wie die AfD einen Schlussstrich unter das schlimmste Kapitel der deutschen Geschichte ziehen wollen.