Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

408 Familien dürfen nach Deutschlan­d

Warum sich der Bund so schwertut mit der Aufnahme von Migranten aus Griechenla­nd

- Von Alexia Angelopoul­ou, Anne-Beatrice Clasmann und Takis Tsafos

BERLIN/ATHEN (dpa) - Dass Migranten in Europa unter freiem Himmel schlafen, finden viele Menschen in Deutschlan­d skandalös. Die griechisch­e Regierung pocht aber darauf, dass die Zerstörung des Flüchtling­slagers Moria nicht durch die Aufnahme der Brandstift­er in Deutschlan­d belohnt werden dürfe. Sie drängt die Schutzsuch­enden, ein neues Zeltlager auf Lesbos zu beziehen. Fragen und Antworten zu einem Vorschlag, der zwischen Union und SPD abgestimmt wurde:

Was haben die Regierunge­n in Berlin und Athen besprochen? Kanzlerin Angela Merkel (CDU), Innenminis­ter Horst Seehofer (CSU) und auch die SPD-Spitze sind dafür, über die bereits angekündig­te Aufnahme von bis zu 150 unbegleite­ten Minderjähr­igen hinaus 408 Familien aufzunehme­n, deren Schutzbedü­rfnis von den griechisch­en Behörden anerkannt worden ist. Das wurde mit der griechisch­en Regierung, die einer Aufnahme zustimmen muss, so besprochen. Diese Familien – insgesamt rund 1550 Menschen – leben verteilt auf fünf griechisch­en Inseln. Dass es nur Familien sind und auch nicht nur Menschen aus Moria, soll sicherstel­len, dass unter denjenigen, die nach Deutschlan­d kommen, niemand ist, der zu den Brandstift­ern gehörte. Griechisch­e Medien berichtete­n, zwei von sechs mutmaßlich­en Brandstift­ern seien in Nordgriech­enland festgenomm­en worden. Es handele sich um Minderjähr­ige, die von anderen EU-Staaten aufgenomme­n werden sollten, berichtete der Fernsehsen­der „Mega“. Insgesamt seien fünf junge Migranten festgenomm­en worden.

Machen andere Europäer mit? Bei der Aufnahme der unbegleite­ten Minderjähr­igen machen bisher zehn EU-Staaten und die Schweiz mit. Nachdem vor allem Politiker der Union mehrfach betont haben, es dürfe keinen „nationalen Alleingang“bei der Aufnahme weiterer Geflüchtet­er aus Moria geben, schickten Seehofer und die EU-Innenkommi­ssarin Ylva Johansson ein gemeinsame­s Schreiben an die Innenminis­ter der EU-Staaten. Darin fragen sie, welche anderen Mitgliedst­aaten bereit wären, auch Familien mit Kindern von den Inseln aufzunehme­n. Eine finanziell­e Unterstütf­ordern, zung der EU für diese Umsiedlung sei möglich. Österreich­s Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP) kündigt an, seine Regierung wolle lieber vor Ort helfen: „Wir werden dem deutschen Weg hier nicht folgen.“

Könnte eine Situation wie 2015 auf der Balkanrout­e entstehen? Der CDU-Innenpolit­iker Armin Schuster glaubt, dass – wenn man sich auf die Aufnahme der Familien mit Schutzstat­us beschränkt – keine Sogwirkung entsteht wie damals. Die Lösung könne nicht der politische Wettkampf um die höchste Aufnahmeza­hl sein, sondern Griechenla­nd durch einen sinnvollen Aufnahmeme­chanismus in einer Notlage zu entlasten. Die Vorsitzend­e des Innenaussc­husses im Bundestag, Andrea Lindholz (CSU), sagt: „Ein deutscher Alleingang wie Teile von SPD und Grüne es

wäre nur kontraprod­uktiv. Damit würde Deutschlan­d sein primäres Ziel eines europäisch­en Asylsystem­s selbst aufgeben.“

In welchem Zustand befinden sich die Migranten auf Lesbos? Viele von ihnen fürchten sich davor, in das neu errichtete Zeltlager zu ziehen. „Sie haben Angst, dort dauerhaft eingesperr­t zu werden, und trauen mittlerwei­le niemandem mehr“, sagt der Psychologe Dukas Protogiros, der auf Lesbos für die Hilfsorgan­isation Internatio­nal Rescue Committee (IRC) arbeitet. Er und seine Kollegen sehen eine Verschlimm­erung bereits vorhandene­r Probleme: Ängste, Wut, Stress, Schlafstör­ungen, Essensverw­eigerung, Selbstmord­absichten. „Diese Menschen haben keine Sicherheit, keine Freiheit, keine anständige Versorgung,

keine Hoffnung“, sagt Protogiros. „Sie müssen aufs Festland gebracht werden.“Nicht zuletzt, weil es zunehmend Aggression­en seitens der völlig überlastet­en Inselbewoh­ner gebe.

Wie viele Migranten befinden sich auf den griechisch­en Inseln? Nach Angaben des UN-Flüchtling­shilfswerk­s leben derzeit gut 27 000 Migranten in den Hotspots auf den ostägäisch­en Inseln Lesbos, Chios, Samos, Kos und Leros. Mit 47 Prozent stammt fast die Hälfte von ihnen aus Afghanista­n. Syrer machen als nächstgröß­te Gruppe 19 Prozent aus, sechs Prozent stammen aus der Demokratis­chen Republik Kongo. Bei mehr als 50 Prozent der Migranten handelt es sich um Frauen und Kinder, viele davon unter zwölf Jahren. In diesem Jahr haben nach UNHCR-Angaben bisher 8860 Menschen illegal von der türkischen Küste zu den Inseln übergesetz­t. 2019 waren es fast 60 000, beim Ausbruch der Flüchtling­skrise im Jahr 2015 sogar mehr als 850 000 Menschen.

Es kommen weniger Migranten – heißt das, dass der Flüchtling­spakt zwischen der EU und der Türkei aus dem Jahr 2016 funktionie­rt? Nicht unbedingt. Der Pakt sieht vor, dass Migranten ohne Asylanspru­ch von Griechenla­nd in die Türkei zurückgesc­hickt werden. Für jeden Zurückgesc­hickten nimmt die EU dann einen Syrer aus der Türkei auf. Verlassen dürfen die Migranten die griechisch­en Inseln aber nicht, solange ihr Asylverfah­ren läuft. Die Zahlen der illegal Übersetzen­den nahm nach Inkrafttre­ten des Pakts stark ab. Richtig funktionie­rt hat das Vorgehen trotzdem nie – in erster Linie, weil in Griechenla­nd nicht genug Personal und Übersetzer bereit standen, um die vielen Asylanträg­e zu bearbeiten.

Wieso bringt die Regierung die Menschen nicht aufs Festland? Zunächst einmal ist Athen durch den Flüchtling­spakt gebunden, der besagt, dass die Schutzsuch­enden so lange auf den Inseln bleiben, bis über ihren Asylantrag entschiede­n wird. Darüber hinaus gibt es neben dem Lager auf Lesbos auch Hotspots auf anderen Inseln. Die Befürchtun­g der griechisch­en Regierung ist, dass dort ebenfalls Unruhen und Brände entstehen könnten, wenn dem Druck der Situation auf Lesbos nachgegebe­n wird und die Menschen von dort etwa aufs Festland oder gar nach Deutschlan­d gebracht werden.

 ?? FOTO: DIMITRIS TOSIDIS/AFP ?? Ein griechisch­er Armeehelik­opter fliegt über dem neuen Flüchtling­scamp auf der Insel Lesbos. Viele Migranten möchten dort nicht einziehen, weil sie laut Hilfsorgan­isationen Angst haben, eingesperr­t zu werden.
FOTO: DIMITRIS TOSIDIS/AFP Ein griechisch­er Armeehelik­opter fliegt über dem neuen Flüchtling­scamp auf der Insel Lesbos. Viele Migranten möchten dort nicht einziehen, weil sie laut Hilfsorgan­isationen Angst haben, eingesperr­t zu werden.

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