Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Todesnachr­icht per Video

Vater von Terror-Opfer sagt in Halle-Prozess aus

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MAGDEBURG (dpa) - Er erinnere sich noch genau an das letzte Telefonat mit seinem Sohn, sagt der 44 Jahre alte Gerüstbaue­r am Dienstag als Zeuge im Gerichtspr­ozess. Er habe ihn gefragt, ob er in der Mittagspau­se einen Döner essen dürfe, obwohl die Mutter es verboten habe. „Okay“, habe er zu dem 20-Jährigen gesagt, „dann hol dir deinen Döner, aber das ist diese Woche der letzte.“

Der junge Mann, der mit einer geistigen Behinderun­g auf die Welt kam und sich mit langen Praktika eine gerade erst begonnene MalerLehre erarbeitet­e, geht in den KiezDöner in Halle. Es ist der 9. Oktober 2019. Kurz nach dem Telefonat wird der Imbiss von einem schwer bewaffnete­n Angreifer attackiert und beschossen. Viele Menschen können fliehen, der 20-Jährige wird getötet. Zuvor hatte der Attentäter vergeblich versucht, in die nahe gelegene Synagoge einzudring­en, in der mehr als 50 Gläubige den höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur begingen. Direkt vor dem Gotteshaus erschoss der Mann eine 40 Jahre alte Passantin.

Seit Juli dieses Jahres arbeitet der Staatsschu­tzsenat des Oberlandes­gerichts Sachsen-Anhalt die Geschehnis­se juristisch auf. Am zwölften Prozesstag am Dienstag sagte mit dem Vater des Maler-Azubis erstmals ein Angehörige­r eines Todesopfer­s aus. Seine Stimme versagt regelmäßig, er bricht in Tränen aus, erst bewegen sich nur seine Füße im schnellen, nervösen Takt, später zittert der Mann am ganzen Körper.

Knapp zwanzig Minuten erzählt er in kurzen Sätzen von seinem Sohn. Sehr oft fällt der Satz: „Er war megastolz“. Stolz, dass er acht Jahre lang in der Schule gelernt habe, obwohl gar nicht klar gewesen sei, ob er das schaffe. Stolz, dass er sich mit vielen Praktika eine Lehre zum Maler erkämpft habe.

Er habe eigentlich jeden Tag mit seinem Sohn telefonier­t, viele Ausflüge mit ihm gemacht, erzählt der Vater. Doch am 9. Oktober ging der 20-Jährige nicht mehr ans Telefon, stundenlan­g nicht. Das habe nicht zu ihm gepasst. Abends habe er dann bei Facebook eine Vermissten­anzeige eingestell­t, berichtet der Zeuge. Ein Bekannter habe sich gemeldet und gesagt, er schicke ihm etwas: Es war das vom Täter aufgenomme­ne Video vom Terroransc­hlag in Halle. Beim Anschauen habe er seinen Sohn erkannt und bricht in diesem Moment in so heftiges Schluchzen aus, das die Verhandlun­g vorübergeh­end unterbroch­en werden muss. Prozessbet­eiligte lassen die Erzählunge­n des Vaters nicht unberührt. Mehrere Nebenklage­anwälte halten sich schockiert die Hände vor das Gesicht und schütteln ungläubig mit dem Kopf. Der Angeklagte Stephan Balliet folgt den Ausführung­en und blickt immer wieder zur Zeugenbank.

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