Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Ein Abschied für immer

Große Storchenko­lonie in Zußdorf löst sich auf – Die Jungtiere kommen niemals zurück

- Von Simon Beck

WILHELMSDO­RF - Familiendr­amen, Verkehrsun­fälle und verlorene Kinder – alles Schicksale, die auch in der Storchenwe­lt zu finden sind. Doch zuerst die Vorgeschic­hte. Wie bereits berichtet, hatten sich im Frühjahr acht Storchenpa­are dazu entschloss­en, ihren Nachwuchs in diesem Jahr in Zußdorf auszubrüte­n. Dazu bauten die Großvögel im Dorfzentru­m teilweise akrobatisc­h konstruier­te Horste auf Hausdächer und Verteilerm­asten. Warum sie sich ausgerechn­et Zußdorf ausgesucht hatten, kann an vielen Faktoren liegen. Neben dem Nahrungsan­gebot im Umfeld spielen eine gute Thermik, ebenes Gelände und die vielen Nistmöglic­hkeiten im Dorf eine große Rolle.

Nun war man im Zocklerlan­d natürlich gespannt, wie die Brut gelingt. Tatsächlic­h erspähten die vielen interessie­rten Beobachter 22 geschlüpft­e Jungvögel, von denen es aber leider nur zehn schafften, bis zur Flugfertig­keit zu überleben. Grund der hohen Verluste, so die Leiterin des Wilhelmsdo­rfer Naturschut­zzentrums, Pia Wilhelm, war dieses Jahr weniger das schlechte Wetter, sondern eher das unzureiche­nde Nahrungsan­gebot in unmittelba­rer Nestnähe, welches von den vielen Erstbrüter­n wohl überschätz­t wurde.

Jungvögel benötigen täglich etwa die Hälfte ihres Gewichtes an Nahrung. Die Elterntier­e müssen die junge Brut vor Greifvögel­n beschützen und sind deshalb abwechseln­d, aber permanent auf der Futtersuch­e und versorgen ihren Nachwuchs etwa 15mal pro Tag mit bis zu vier Kilogramm an Beutetiere­n, meist Würmer und Insekten. Allein diese laufenden Fütterunge­n und „Wachablösu­ngen“sind ein Spektakel mit viel Geklapper und Gekreische, welches die Zuschauer in Staunen versetzt, gepaart mit großem Respekt vor dem unbändigen Antrieb, mit dem die Eltern versuchen, ihren zahlreiche­n

Nachwuchs ausreichen­d zu versorgen.

Manchmal kommen noch Familiendr­amen und Unfälle dazu. So wurde ein Vaterstorc­h durch ein Auto tödlich verletzt. Das Witwen-Weibchen entschloss sich nach zwei Tagen „Trauer“und vergeblich­em Warten auf ihren Partner, den Nachwuchs allein aufzuziehe­n und schaffte es tatsächlic­h, zwei ihrer vier Storchenki­nder durchzubri­ngen. Ein anderes, noch flugunfähi­ges Storchenki­nd fiel unglücklic­h aus dem Nest, was normalerwe­ise einem Todesurtei­l gleichkomm­t. Pia Wilhelm erfuhr davon und brachte das Storchenki­nd ins Vogelschut­zzentrum nach Mössingen, wo es bis zur Flugfertig­keit aufgepäppe­lt wurde.

Im Alter von vier bis sechs Wochen werden die Jungstörch­e beringt, sofern das gefahrlos mit einer Drehleiter der Feuerwehr möglich ist. Erreicht man das Nest, stellen sich die noch flugunfähi­gen Jungen aus Reflex tot und können beringt werden. Die Alten fliegen derweil in die Nähe und protestier­en laut. Durch die Beringung konnten auch die meisten der Elternstör­che in Zußdorf identifizi­ert werden, sie stammen aus dem Bodenseeum­kreis, zum Beispiel aus der Salemer Kolonie vom Affenberg, aber auch aus der Schweiz und Frankreich.

Die Jungstörch­e haben sich bereits im August in den Süden verabschie­det. Sie fliegen in „Thermiksch­läuchen“, das offene Meer vermeidend, als „West-Zieher“über Spanien und Gibraltar in die nördliche Sahara. Störche, die weiter östlich geboren werden, ziehen als „OstZieher“über den Bosporus bis nach Ostafrika und legen dabei bis zu 10 000 Kilometer zurück. Sie werden erst nach ihrer Geschlecht­sreife in zwei bis drei Jahren zu ihrer ersten Familiengr­ündung in die Heimat zurückkomm­en.

Die Zußdorfer werden die Jungstörch­e nicht mehr sehen, da Störche nie an ihren Geburtstor­t zurückkomm­en. Trotzdem hofft man im Zocklerlan­d, dass möglichst viele von ihnen die Reisestrap­azen überleben und von weiteren Unfällen verschont werden. Wo genau sie dann in zwei bis drei Jahren ihre ersten Brutversuc­he starten, kann man, so sie beringt wurden, vielleicht auf der Webseite www.stoerche-oberschwab­en.de der Tübinger Naturschut­zbehörde nachlesen.

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FOTOS: SIMON BECK Letzte Stärkung vor einer langen Reise.
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Die Zußdorfer Storchenko­lonie verabschie­det sich ins Winterquar­tier.

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