Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Wessen Wille geschehe?
Nach dem Karlsruher Urteil muss der Gesetzgeber die Sterbehilfe neu regeln – Wie aber etwas gestalten und in Normen fassen, was eigentlich unaussprechlich ist?
WEINGARTEN - Dr. S. hat in seiner Hausarztpraxis unweit des Bodensees schon viele verzweifelte Menschen gesehen. Leute, deren gesundheitlicher Zustand wenig Anlass zur Hoffnung gab. „Und ja, darunter waren auch Patienten, wenn auch sehr selten, die ganz klar darum gebeten haben, dass ich ihnen einen Ausweg aufzeige. Sozusagen die Hintertür“, sagt Dr. S. und tut sich dabei ein bisschen schwer, zu lächeln. Das Weiß seiner Zähne geht im Weiß aller anderen Dinge im Behandlungsraum auf: Arztkittel, Tischplatte, Regal, Fensterbrett, Zimmertür – alles wirkt beinahe engelhaft strahlend.
Dr. S. ist sich der Grenzen bewusst, an die ein Hausarzt stößt, wenn er es mit den letzten Dingen eines Menschen zu tun bekommt, dem die Medizin den Stempel „austherapiert“aufgedrückt hat. „Sie entwickeln mit den Jahren aber ein Gefühl dafür, wer wirklich Grund zum Verzweifeln hat und wer dann mit einigem Fug und Recht mit dem Gedanken spielt, seinen Weg abzukürzen.“
Natürlich gebe es auch Leute, die eine Neigung zum Dramatisieren hätten und die ein offenes Ohr bräuchten, einen Mutmacher – aber ganz sicher keinen Sterbehelfer, sagt der Allgemeinmediziner, der zunächst eigentlich gar nichts zum Thema Sterbehilfe sagen wollte. Auch nicht, ob er selbst schon darüber nachgedacht hat, etwas für einen Patienten zu tun, was er eigentlich nicht dürfte.
Mit seiner äußerst vorsichtigen Haltung zum Thema ist er in guter Gesellschaft und das illustriert auch, dass Tod und Krankheit nach wie vor hinter einem dicken Vorhang versteckt werden und sich an diesem Tabu niemand ohne Not die Finger verbrennen möchte. Nicht Dr. S – und auch nicht das halbe Dutzend anderer telefonisch angefragter Allgemeinmediziner, die auf die Bundesoder Landesärztekammer verweisen, statt selbst öffentlich Stellung zu nehmen.
Den dicken Vorhang hat das Bundesverfassungsgericht im Februar aber ein gutes Stück weit aufgerissen, als es das Verbot von gewerbsmäßiger Sterbehilfe für verfassungswidrig erklärte und dem Gesetzgeber damit den Auftrag erteilte, dieses tendenziell nur schlecht ausgeleuchtete Dunkelfeld im Graubereich zwischen Ethik, Theologie und Medizin neu zu regeln.
Aber fällt Sterbehilfe – wie immer sie in Zukunft auch gesetzlich geregelt sein mag – automatisch ins Aufgabenfeld von Ärzten? Die Haltung der Ärztekammer Baden-Württemberg ist in diesem Punkt nicht ganz eindeutig. Der Leiter der ärztlichen Pressestelle, Oliver Erens, schreibt auf Anfrage der „Schwäbischen Zeitung“: „Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist in erster Linie der Gesetzgeber gefordert, die Rahmenbedingungen für eine Hilfe zur Selbsttötung neu zu definieren.
Auch die Ärzteschaft war von dem Urteil zunächst verunsichert. Keinesfalls kann ausgesprochen oder unausgesprochen ein Anspruch hergeleitet werden, dass ein einzelner Arzt oder die Ärzteschaft insgesamt zur Suizidbeihilfe verpflichtet ist. Andererseits geht ein ausdrückliches Verbot der Beihilfe zum Selbstmord, wie es in den Berufsordnungen verschiedener Landesärztekammern – noch – formuliert ist, nach dem Spruch des Bundesverfassungsgerichts jetzt ins Leere.“
Oliver Erens stellt aber auch klar, dass innerhalb der Ärzteschaft Einigkeit darüber herrsche, „dass die Beihilfe zur Selbsttötung keine ärztliche Aufgabe ist. Das bewusste Beenden des Lebens und auch die wie auch immer geartete professionelle Begleitung dabei stehen diametral den ureigenen ärztlichen Verpflichtungen entgegen und würden auch die Garantenstellung der Ärztinnen und Ärzte für das Leben infrage stellen.“
Wer also soll die verantwortungsvolle Aufgabe am Ende eines Leidenswegs übernehmen, wenn Karlsruhe klar feststellt, dass ein Verbot, das eigene Leben mithilfe anderer zu beenden, verfassungswidrig ist? Diese Frage ist der Kern einer Podiumsdiskussion, die am Mittwochabend im Tagungshaus Weingarten für eindringliche Positionierungen der Teilnehmer gesorgt hat.
Eingeladen dazu hatte die Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart. Mit „Wer reicht den Schierlingsbecher?“hat die Veranstaltung einen mehr als eindeutigen Titel. Und auch nach drei Stunden vor zwei Dutzend Zuhörern vor Ort und vielen weiteren im Netz wird der Abend mehr Fragen als Antworten eines schwierigen Komplexes zurücklassen, in dem die gesellschaftliche Debatte durch das Bundesverfassungsgericht erst richtig beginnt.
Denn: Das Urteil der Karlsruher Richter, das die persönliche Freiheit zur Selbstbestimmung als Ausdruck der Unantastbarkeit der Menschenwürde interpretiert, stößt gerade bei Theologen auf Zweifel. Und so zweifelt Dietmar Mieth, emeritierter Professor für Theologische Ethik/ Sozialethik an der Universität Tübingen, schon in seinem Impulsvortrag deutlich daran, dass persönliche Freiheit und Menschenwürde „in einen Topf gehören“. Denn es gebe schließlich auch die Menschenwürde der anderen, die durch Selbsttötung betroffen seien – etwa Angehörige, „das Gewissen derjenigen, die in der Pflege arbeiten“, ganz zu schweigen von jenen Menschen, die dann tatsächlich assistieren, wenn es um das vorzeitige Beenden von Leben gehe. Seine evangelische
Kollegin auf dem Podium, Christiane Kohler-Weiß, Referatsleiterin für Theologie und Bildung beim Diakonischen Werk Baden-Württemberg, wirft im Laufe des Abends mehrmals die Frage nach Gott auf, der das Leben schenke und inwiefern der Mensch das Recht habe, dieses Geschenk quasi zurückzugeben. Und doch: „Wir dürfen einen Menschen, der den Wunsch hat, aufgrund gravierender Umstände zu sterben, nicht wegdrücken. Er braucht Begleitung, unsere Barmherzigkeit – und darf mit seinem Wunsch nicht allein gelassen werden.“
Beide Theologen verbindet die Befürchtung, dass gerade vor dem Hintergrund hoher Pflegekosten ein
Der Ravensburger CDU-Bundestagsabgeordnete Axel Müller sozialer Druck auf Betroffene zukommen könnte, wenn Sterbehilfe plötzlich eine reale Option ist. „Die Existenz eines solchen Angebotes hat Einfluss auf Entscheidungen“, glaubt Dietmar Mieth. Diese Meinung teilt auch der aus Berlin per Videokonferenz zugeschaltete Ravensburger CDU-Bundestagsabgeordnete Axel Müller, der als ehemaliger Richter selbst um die juristischen Grenzverläufe weiß. „Ich frage mich, ob der Individualismus nicht schon in Egoismus umgeschlagen ist. Ich als Katholik glaube, dass es richtig ist, das Leben so anzunehmen, wie es ist.“Die Gesellschaft müsse dafür sorgen, dass Menschen sich in ihrer Sterbephase auf Beistand, Pflege und Seelsorge verlassen könnten. „Das ist der zentrale Punkt“, betont Müller.
Den Blick für die praktischen Probleme mit den Fragen der Sterbehilfe öffnen zwei Mediziner auf dem Podium: zum einen Hans-Otto Bürger, der als Allgemeinmediziner und Vorsitzender der Kreisärzteschaft Ravensburg spricht, und zum anderen Heino Hügel, der ärztlicher Leiter der ambulanten Palliativmedizin an der Oberschwabenklinik in Ravensburg ist. Hügel sieht ähnlich wie Müller die Stärkung der Versorgung Sterbender als Schlüssel, um den Wunsch nach Sterbehilfe nicht mächtig zu machen. „Wenn Sie mit Sterbenden zu tun haben, erleben Sie, wie im ganz normalen Leben auch, Höhen und Tiefen.“Es sei eine sehr vielschichtige Frage, ob es richtig ist, diese letzte Lebensphase abkürzen zu dürfen. Denn es gebe auch da noch wertvolle Momente, gerade mit Angehörigen.
Der praktische Arzt Hans-Otto Bürger aus Vogt ist froh um den Richterspruch aus Karlsruhe, „denn er zwingt uns jetzt dazu, das Thema so zu regeln, dass wir Ärzte klarer sehen“. Bislang hätten er und seine Kollegen sich von der Politik in den Grenzfragen zwischen Leben und Tod alleine gelassen gefühlt. Moderatorin Verena Wodtke-Werner will von Bürger wissen, wie über das Urteil innerhalb der Ärzteschaft diskutiert werde. „Wegen Corona gibt es praktisch keinen Austausch mehr, keine Gelegenheit etwa auf Kongressen, sich intensiv damit auseinanderzusetzen.“
Auch die politische Ebene, von der Axel Müller in der Hoffnung der Moderatorin aus Berlin berichten sollte, sei von Covid-19 teilweise blockiert, berichtet der Bundestagsabgeordnete. „Ich kann aber sagen, dass wir uns über die Parteigrenzen hinweg mit dem Thema befassen.“Müller glaubt, dass am Ende mehrere Gesetzesentwürfe auf dem Tisch liegen werden. Wie konkret diese aussehen, wer am Ende tatsächlich „den Schierlingsbecher“reicht – dazu sagt auch Müller an diesem Abend nichts Konkretes. Ob eine solche Sterbehilfe ehrenamtlich oder kommerziell aussehen könnte, und welche Art von Organisation sie übernehmen könnte – auch dazu liefert die Runde keine abschließenden Antworten.
Mit der Publikumsfrage, ob es „eine Pflicht zu leben“gebe, sind wieder die Ethiker und Theologen der Runde gefordert, deren Haltung mit Gottesbezug in einer sich zunehmend von der Kirche entfernenden Bevölkerung freilich keine allgemeine Gültigkeit hat. Christiane KohlerWeiß erinnert an den Satz, der sich auf Gott bezieht, aus dem „Vater Unser“: „Dein Wille geschehe.“Wessen Wille am Ende geschehe, ist bei einem derart heiklen Thema über alle Fachgrenzen hinaus jedenfalls noch lange nicht ausdiskutiert.
Für Dr. S., den Hausarzt aus der Bodenseeregion, der nun seinen Arztkittel auszieht und an den Haken hinter der Tür hängt, ist der Wunsch nach einem selbstbestimmten Lebensende grundsätzlich nachvollziehbar. „Es kommt halt immer drauf an“, sagt er. Im Augenblick redeten alle über assistierten Suizid bei schwerer Krankheit. „Aber was ist mit den anderen Situationen, in denen sich Menschen wünschen, sich das Leben zu nehmen?“Mit Leuten in psychischen Ausnahmesituationen? Mit körperlich Gesunden, aber Traumatisierten? Mit Menschen, die Liebeskummer haben? Auch eine von der Verfassung geschützte Entscheidung der persönlichen Freiheit, die über allem steht?
Das Bundesverfassungsgericht hat mit seinem Urteil, dass gewerbsmäßige Sterbehilfe nicht generell strafbar sein kann, zwar gesagt, was der Gesetzgeber nicht mehr verbieten darf. Was er im Gegenzug aber wie, wann, wo und durch wen konkret erlauben will – das steht damit längst noch nicht fest.
„Ich als Katholik glaube, dass es richtig ist, das Leben so anzunehmen, wie es ist.“