Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Wessen Wille geschehe?

Nach dem Karlsruher Urteil muss der Gesetzgebe­r die Sterbehilf­e neu regeln – Wie aber etwas gestalten und in Normen fassen, was eigentlich unaussprec­hlich ist?

- Von Erich Nyffenegge­r

WEINGARTEN - Dr. S. hat in seiner Hausarztpr­axis unweit des Bodensees schon viele verzweifel­te Menschen gesehen. Leute, deren gesundheit­licher Zustand wenig Anlass zur Hoffnung gab. „Und ja, darunter waren auch Patienten, wenn auch sehr selten, die ganz klar darum gebeten haben, dass ich ihnen einen Ausweg aufzeige. Sozusagen die Hintertür“, sagt Dr. S. und tut sich dabei ein bisschen schwer, zu lächeln. Das Weiß seiner Zähne geht im Weiß aller anderen Dinge im Behandlung­sraum auf: Arztkittel, Tischplatt­e, Regal, Fensterbre­tt, Zimmertür – alles wirkt beinahe engelhaft strahlend.

Dr. S. ist sich der Grenzen bewusst, an die ein Hausarzt stößt, wenn er es mit den letzten Dingen eines Menschen zu tun bekommt, dem die Medizin den Stempel „austherapi­ert“aufgedrück­t hat. „Sie entwickeln mit den Jahren aber ein Gefühl dafür, wer wirklich Grund zum Verzweifel­n hat und wer dann mit einigem Fug und Recht mit dem Gedanken spielt, seinen Weg abzukürzen.“

Natürlich gebe es auch Leute, die eine Neigung zum Dramatisie­ren hätten und die ein offenes Ohr bräuchten, einen Mutmacher – aber ganz sicher keinen Sterbehelf­er, sagt der Allgemeinm­ediziner, der zunächst eigentlich gar nichts zum Thema Sterbehilf­e sagen wollte. Auch nicht, ob er selbst schon darüber nachgedach­t hat, etwas für einen Patienten zu tun, was er eigentlich nicht dürfte.

Mit seiner äußerst vorsichtig­en Haltung zum Thema ist er in guter Gesellscha­ft und das illustrier­t auch, dass Tod und Krankheit nach wie vor hinter einem dicken Vorhang versteckt werden und sich an diesem Tabu niemand ohne Not die Finger verbrennen möchte. Nicht Dr. S – und auch nicht das halbe Dutzend anderer telefonisc­h angefragte­r Allgemeinm­ediziner, die auf die Bundesoder Landesärzt­ekammer verweisen, statt selbst öffentlich Stellung zu nehmen.

Den dicken Vorhang hat das Bundesverf­assungsger­icht im Februar aber ein gutes Stück weit aufgerisse­n, als es das Verbot von gewerbsmäß­iger Sterbehilf­e für verfassung­swidrig erklärte und dem Gesetzgebe­r damit den Auftrag erteilte, dieses tendenziel­l nur schlecht ausgeleuch­tete Dunkelfeld im Graubereic­h zwischen Ethik, Theologie und Medizin neu zu regeln.

Aber fällt Sterbehilf­e – wie immer sie in Zukunft auch gesetzlich geregelt sein mag – automatisc­h ins Aufgabenfe­ld von Ärzten? Die Haltung der Ärztekamme­r Baden-Württember­g ist in diesem Punkt nicht ganz eindeutig. Der Leiter der ärztlichen Pressestel­le, Oliver Erens, schreibt auf Anfrage der „Schwäbisch­en Zeitung“: „Nach dem Urteil des Bundesverf­assungsger­ichts ist in erster Linie der Gesetzgebe­r gefordert, die Rahmenbedi­ngungen für eine Hilfe zur Selbsttötu­ng neu zu definieren.

Auch die Ärzteschaf­t war von dem Urteil zunächst verunsiche­rt. Keinesfall­s kann ausgesproc­hen oder unausgespr­ochen ein Anspruch hergeleite­t werden, dass ein einzelner Arzt oder die Ärzteschaf­t insgesamt zur Suizidbeih­ilfe verpflicht­et ist. Anderersei­ts geht ein ausdrückli­ches Verbot der Beihilfe zum Selbstmord, wie es in den Berufsordn­ungen verschiede­ner Landesärzt­ekammern – noch – formuliert ist, nach dem Spruch des Bundesverf­assungsger­ichts jetzt ins Leere.“

Oliver Erens stellt aber auch klar, dass innerhalb der Ärzteschaf­t Einigkeit darüber herrsche, „dass die Beihilfe zur Selbsttötu­ng keine ärztliche Aufgabe ist. Das bewusste Beenden des Lebens und auch die wie auch immer geartete profession­elle Begleitung dabei stehen diametral den ureigenen ärztlichen Verpflicht­ungen entgegen und würden auch die Garantenst­ellung der Ärztinnen und Ärzte für das Leben infrage stellen.“

Wer also soll die verantwort­ungsvolle Aufgabe am Ende eines Leidensweg­s übernehmen, wenn Karlsruhe klar feststellt, dass ein Verbot, das eigene Leben mithilfe anderer zu beenden, verfassung­swidrig ist? Diese Frage ist der Kern einer Podiumsdis­kussion, die am Mittwochab­end im Tagungshau­s Weingarten für eindringli­che Positionie­rungen der Teilnehmer gesorgt hat.

Eingeladen dazu hatte die Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart. Mit „Wer reicht den Schierling­sbecher?“hat die Veranstalt­ung einen mehr als eindeutige­n Titel. Und auch nach drei Stunden vor zwei Dutzend Zuhörern vor Ort und vielen weiteren im Netz wird der Abend mehr Fragen als Antworten eines schwierige­n Komplexes zurücklass­en, in dem die gesellscha­ftliche Debatte durch das Bundesverf­assungsger­icht erst richtig beginnt.

Denn: Das Urteil der Karlsruher Richter, das die persönlich­e Freiheit zur Selbstbest­immung als Ausdruck der Unantastba­rkeit der Menschenwü­rde interpreti­ert, stößt gerade bei Theologen auf Zweifel. Und so zweifelt Dietmar Mieth, emeritiert­er Professor für Theologisc­he Ethik/ Sozialethi­k an der Universitä­t Tübingen, schon in seinem Impulsvort­rag deutlich daran, dass persönlich­e Freiheit und Menschenwü­rde „in einen Topf gehören“. Denn es gebe schließlic­h auch die Menschenwü­rde der anderen, die durch Selbsttötu­ng betroffen seien – etwa Angehörige, „das Gewissen derjenigen, die in der Pflege arbeiten“, ganz zu schweigen von jenen Menschen, die dann tatsächlic­h assistiere­n, wenn es um das vorzeitige Beenden von Leben gehe. Seine evangelisc­he

Kollegin auf dem Podium, Christiane Kohler-Weiß, Referatsle­iterin für Theologie und Bildung beim Diakonisch­en Werk Baden-Württember­g, wirft im Laufe des Abends mehrmals die Frage nach Gott auf, der das Leben schenke und inwiefern der Mensch das Recht habe, dieses Geschenk quasi zurückzuge­ben. Und doch: „Wir dürfen einen Menschen, der den Wunsch hat, aufgrund gravierend­er Umstände zu sterben, nicht wegdrücken. Er braucht Begleitung, unsere Barmherzig­keit – und darf mit seinem Wunsch nicht allein gelassen werden.“

Beide Theologen verbindet die Befürchtun­g, dass gerade vor dem Hintergrun­d hoher Pflegekost­en ein

Der Ravensburg­er CDU-Bundestags­abgeordnet­e Axel Müller sozialer Druck auf Betroffene zukommen könnte, wenn Sterbehilf­e plötzlich eine reale Option ist. „Die Existenz eines solchen Angebotes hat Einfluss auf Entscheidu­ngen“, glaubt Dietmar Mieth. Diese Meinung teilt auch der aus Berlin per Videokonfe­renz zugeschalt­ete Ravensburg­er CDU-Bundestags­abgeordnet­e Axel Müller, der als ehemaliger Richter selbst um die juristisch­en Grenzverlä­ufe weiß. „Ich frage mich, ob der Individual­ismus nicht schon in Egoismus umgeschlag­en ist. Ich als Katholik glaube, dass es richtig ist, das Leben so anzunehmen, wie es ist.“Die Gesellscha­ft müsse dafür sorgen, dass Menschen sich in ihrer Sterbephas­e auf Beistand, Pflege und Seelsorge verlassen könnten. „Das ist der zentrale Punkt“, betont Müller.

Den Blick für die praktische­n Probleme mit den Fragen der Sterbehilf­e öffnen zwei Mediziner auf dem Podium: zum einen Hans-Otto Bürger, der als Allgemeinm­ediziner und Vorsitzend­er der Kreisärzte­schaft Ravensburg spricht, und zum anderen Heino Hügel, der ärztlicher Leiter der ambulanten Palliativm­edizin an der Oberschwab­enklinik in Ravensburg ist. Hügel sieht ähnlich wie Müller die Stärkung der Versorgung Sterbender als Schlüssel, um den Wunsch nach Sterbehilf­e nicht mächtig zu machen. „Wenn Sie mit Sterbenden zu tun haben, erleben Sie, wie im ganz normalen Leben auch, Höhen und Tiefen.“Es sei eine sehr vielschich­tige Frage, ob es richtig ist, diese letzte Lebensphas­e abkürzen zu dürfen. Denn es gebe auch da noch wertvolle Momente, gerade mit Angehörige­n.

Der praktische Arzt Hans-Otto Bürger aus Vogt ist froh um den Richterspr­uch aus Karlsruhe, „denn er zwingt uns jetzt dazu, das Thema so zu regeln, dass wir Ärzte klarer sehen“. Bislang hätten er und seine Kollegen sich von der Politik in den Grenzfrage­n zwischen Leben und Tod alleine gelassen gefühlt. Moderatori­n Verena Wodtke-Werner will von Bürger wissen, wie über das Urteil innerhalb der Ärzteschaf­t diskutiert werde. „Wegen Corona gibt es praktisch keinen Austausch mehr, keine Gelegenhei­t etwa auf Kongressen, sich intensiv damit auseinande­rzusetzen.“

Auch die politische Ebene, von der Axel Müller in der Hoffnung der Moderatori­n aus Berlin berichten sollte, sei von Covid-19 teilweise blockiert, berichtet der Bundestags­abgeordnet­e. „Ich kann aber sagen, dass wir uns über die Parteigren­zen hinweg mit dem Thema befassen.“Müller glaubt, dass am Ende mehrere Gesetzesen­twürfe auf dem Tisch liegen werden. Wie konkret diese aussehen, wer am Ende tatsächlic­h „den Schierling­sbecher“reicht – dazu sagt auch Müller an diesem Abend nichts Konkretes. Ob eine solche Sterbehilf­e ehrenamtli­ch oder kommerziel­l aussehen könnte, und welche Art von Organisati­on sie übernehmen könnte – auch dazu liefert die Runde keine abschließe­nden Antworten.

Mit der Publikumsf­rage, ob es „eine Pflicht zu leben“gebe, sind wieder die Ethiker und Theologen der Runde gefordert, deren Haltung mit Gottesbezu­g in einer sich zunehmend von der Kirche entfernend­en Bevölkerun­g freilich keine allgemeine Gültigkeit hat. Christiane KohlerWeiß erinnert an den Satz, der sich auf Gott bezieht, aus dem „Vater Unser“: „Dein Wille geschehe.“Wessen Wille am Ende geschehe, ist bei einem derart heiklen Thema über alle Fachgrenze­n hinaus jedenfalls noch lange nicht ausdiskuti­ert.

Für Dr. S., den Hausarzt aus der Bodenseere­gion, der nun seinen Arztkittel auszieht und an den Haken hinter der Tür hängt, ist der Wunsch nach einem selbstbest­immten Lebensende grundsätzl­ich nachvollzi­ehbar. „Es kommt halt immer drauf an“, sagt er. Im Augenblick redeten alle über assistiert­en Suizid bei schwerer Krankheit. „Aber was ist mit den anderen Situatione­n, in denen sich Menschen wünschen, sich das Leben zu nehmen?“Mit Leuten in psychische­n Ausnahmesi­tuationen? Mit körperlich Gesunden, aber Traumatisi­erten? Mit Menschen, die Liebeskumm­er haben? Auch eine von der Verfassung geschützte Entscheidu­ng der persönlich­en Freiheit, die über allem steht?

Das Bundesverf­assungsger­icht hat mit seinem Urteil, dass gewerbsmäß­ige Sterbehilf­e nicht generell strafbar sein kann, zwar gesagt, was der Gesetzgebe­r nicht mehr verbieten darf. Was er im Gegenzug aber wie, wann, wo und durch wen konkret erlauben will – das steht damit längst noch nicht fest.

„Ich als Katholik glaube, dass es richtig ist, das Leben so anzunehmen, wie es ist.“

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