Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Staufen, Lügde, Bergisch Gladbach
Nach erschreckenden Missbrauchsfällen werden Bund und Länder aktiv – Entscheidung über Gesetzesinitiativen
STUTTGART - Pannen bei Polizei, Jugendämtern und Gerichten: Die Missbrauchsskandale von Staufen in Baden-Württemberg und Lügde in Nordrhein-Westfalen wurden durch erhebliche Defizite in den Behörden begünstigt. Bund und Länder planen nun Gesetzesänderungen. Was die Lehren aus den Skandalen waren und was sich nun ändern soll.
Höhere Strafen
Die sieht der Gesetzesentwurf von Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) vor: Wer Kinder sexuell missbraucht, muss demnach mit mindestens einem Jahr Haft rechnen, maximal drohen dann fünfzehn Jahre. Bisher liegt der Strafrahmen bei sechs Monaten bis zehn Jahren. Wer Kinderpornografie verbreitet, soll ein bis zehn Jahre ins Gefängnis, statt bislang drei Monate bis fünf Jahre. Wer solches Material besitzt, käme nicht mehr mit einer Geldstrafe davon, sondern müsste bis zu fünf Jahre hinter Gitter.
Umgang mit Vorbestraften Richter kontrollieren im Rahmen der Führungsaufsicht, ob Straftäter ihre Bewährungsauflagen einhalten. So verurteilten Richter den Staufener Haupttäter mehrfach wegen Missbrauch und Besitz von Kinderpornographie. Er durfte keinen Kontakt zu Kindern haben. Trotzdem lebte er mit einer Frau und deren Sohn zusammen – den das Paar jahrelang missbrauchte. Wer gegen Auflagen verstößt, muss mit einer Haftstrafe von bis zu drei Jahren rechnen. Geht es nach Grünen und CDU im Südwesten, würden bis zu fünf Jahre drohen. Der Antimissbrauchs-Beauftragte der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, hält das grundsätzlich für gut, mahnt aber: „Wir wissen auch, dass höhere Strafandrohungen nur eine sehr begrenzte präventive Wirkung haben.“Außerdem sollen Delikte an Kindern im erweiterten Führungszeugnis lebenslang verzeichnet sein. Bislang werden diese nach einer Frist gelöscht. Die Bundesjustizministerin will diese Fristen zwar deutlich verlängern. Doch Südwest-Jusitzminister Wolf (CDU) hält das nicht für ausreichend: „Nach meiner Überzeugung gebietet es der Schutz Minderjähriger, die Verurteilungen wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern zeitlich unbegrenzt aufzunehmen.“Das Zeugnis muss vorlegen, wer hauptberuflich oder ehrenamtlich mit Kindern oder Jugendlichen arbeitet.
Bessere Zusammenarbeit zwischen den Behörden
Weder in Staufen noch in Lügde tauschten sich Jugendämter, Gerichte und Polizei genügend miteinander aus. Deshalb schlagen Baden-Württemberg und NRW Änderungen vor, über die am Freitag der Bundesrat in Berlin berät. „Da hat die linke Hand nicht gewusst, was die rechte tut. Dazu sollen die in den Bundesrat eingebrachten Vorschläge beitragen. Man will die Behörden dazu nötigen, sich auszutauschen“, erklärt Klaus Pflieger. Der ehemalige baden-württembergische Generalstaatsanwalt war Mitglied der Kinderschutzkommission im Südwesten. Diese setzte die Landesregierung nach dem Skandal von Staufen ein. Unter anderem sollen Familiengerichte mit dem Jugendamt besprechen, ob vom Gericht angeordnete Maßnahmen umsetzbar sind und ob diese von den Eltern eingehalten werden. Famliengerichte entscheiden, welche Auflagen Eltern erfüllen müssen, wenn das Wohl ihrer Kinder gefährdet ist. Im schlimmsten Fall werden die Jungen und Mädchen aus der Familie genommen. „In diesem Bereich müssen aber vor allem die Verwaltungen aktiv werden und Vorgaben für regelmäßige Treffen und Besprechungen machen“, mahnt Jurist Pflieger. Es braucht regelmäßige Fallkonferenzen, auf denen Jugendamt, Polizei und Gerichte sich über betroffene Familien austauschen.
Soll ein Kind bei seinen Eltern bleiben oder ist es akut gefährdet? Solche schwierigen Fragen entscheiden oft unerfahrene Richter. „Leider werden oft Neulinge mit solchen Aufgaben an den Gerichten betraut. Dabei braucht es da gestandene Richterinnen und Richter oder solche, die eine spezielle Schulung durchlaufen haben. Deshalb ist es richtig, Fortbildung auf diesem Gebiet zur Pflicht zu machen. Diese mit Verweis auf die richterliche Unabhängigkeit abzulehnen, halte ich für schwer zu ertragen. Hier geht es schließlich um das Wohl von Kindern“, sagt der Ex-Generalstaatsanwalt Pflieger. Daher hatte die Kinderschutzkommission nach Staufen hier eine Fortbildungspflicht gefordert. In Baden-Württemberg existierte eine solche und soll nun laut Sozialministerium noch einmal verschärft werden. Das Bundesjustizministerium plant ähnliches.
Opfer besser einbeziehen
Schon heute sollen Familienrichter die betroffenen Kinder anhören. Doch das geschieht in der Praxis viel zu selten. Ebenso werden zu selten Dritte persönlich befragt, etwa Lehrer oder Erzieher. Baden-Württemberg fordert deshalb, diese Punkte verbindlicher zu regeln. Außerdem bräuchten Kinder vor Gericht immer einen Verfahrensbeistand. Das sei nicht in jedem Fall notwendig, argumentiert das Bundesjustizministeriums. „Dies würde aus unserer Sicht die Gefahr mit sich bringen, dass infolge fehlerhafter Rechtsanwendung die Verfahrensbeistandsbestellung unterbleibt“, heißt es dazu aus Stuttgart. Der Fall Staufen habe das belegt – für das spätere Opfer gab es keinen solchen Beistand.
Wie es weiter geht
Wenn der Bundesrat am Freitag den Vorstößen aus Baden-Württemberg und NRW folgt, muss sich der Bundestag damit beschäftigen – ebenso wie mit dem Gesetzesentwurf von Ministerin Lambrecht. Dann entscheiden die Abgeordneten, wie die Regeln final aussehen. In BadenWürttemberg hatte die Kinderschutzkommission Anfang 2020 mehr als 100 Empfehlungen vorgelegt, einige davon würden mit einer Änderung der Bundesgesetze verwirklicht. Landessozialminister Manfred Lucha (Grüne) betont: „Weiterentwicklung und Verbesserung des Kinderschutzes sind mit der Vorstellung des Abschlussberichts selbstverständlich nicht beendet.“