Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Märchenhaftes Marburg
Die Stadt an der Lahn ist nicht nur der alten Gebrüder Grimm wegen einen Besuch wert
Es ist ein „Oh-wie-schön“-Postkarten-Panorama, das sich dem Lahn-Ufer-Schlenderer bietet, wenn er es sich mit Eisbecher oder Smoothie auf den sonnenwarmen Planken des im Schilf dümpelnden DLRG-Pontons am Spazierweg „Bei der Hirsemühle“bequem macht: Hinter den gegen die Strömung anstrampelnden Tretbootkapitänen und Wasser schaufelnden Stand-up-Paddlern erheben sich Marburgs Mittelalter-Fachwerk, Schießscharten-Erker und Kirchturm-Mützen wie aufgestapelt am Berg – gekrönt vom rotbraunen Landgrafenschloss, gut 100 Meter überm Fluss gelegen.
Die ersten 26 Höhenmeter sind mittels städtischer Fahrstühle zu bewältigen, das stellt erleichtert fest, wer nun mit leicht nackenversteiftem Hals über die Lahnbrücke auf Marburgs Kern zustrebt. Die anschließende Liftfahrt aus der Unterin die Oberstadt erschlichen sich die Marburger lange Zeit mit vorgegaukeltem Literaturinteresse. Denn bis in die 1980er-Jahre hatte nur die damalige Buchhandlung Elwert einen 1961 gebauten, sehr engen Fahrstuhl, den Einheimische gleichwohl gerne nutzten, um anschließend in der oberen Etage des Ladens kurz in den Regalen zu stöbern, um sich dann – meist ohne Buchkauf – zügig in die Fußgängerzone zu verdrücken … Darauf angesprochen, erzählen ältere Verkäuferinnen der Buchhandlung noch heute lieber solche Geschichten als jene von Marburgs prominentesten Autoren.
Die heißen Jacob und Heinrich Grimm, studierten hier ab 1802 Jura und sammelten wohl schon in ihrer Marburger Zeit alte Märchen. Hanau (ihre Geburtsstadt), Kassel (Schulzeit, Arbeitsjahre) und Göttingen (Professur) vermarkten die Märchen-Brüder ebenfalls, aber keine Stadt tut das so geschickt wie Marburg – mit dem „Grimm-Dich-Pfad“etwa, einer Schnitzeljagd-Route zum Fußgängerzonen-Froschkönig, einem überdimensionalen roten Aschenputtel-Pumps am Schloss, Grimms Wohnhaus in der Barfüßerstraße 35 und 13 weiteren Stationen. Der Parcours verbindet im engen
Netz steiler Kopfsteinpflaster-Stiegen die bekanntesten der von den Grimms gesammelten Volksmärchen mit märchenhaften Kulissen: Hühner gackern an der Engen Gasse in einem verwilderten Kleingarten, und ein Blech-Hahn scheppert zur vollen Stunde mit Flügeln am Buntsandstein-Rathaus von 1529.
Restaurierte Holzfassaden strahlen farbenprächtig in windschiefen Ladenzeilen der Wettergasse, und verwunschene Wildblumen-Pfade führen durch den Rübenstein – diese Gasse endet als glitschige Wendeltreppe in einer Turmruine. Spätestens hier entfährt auch dem heutigen Marburg-Besucher ein Seufzer, den schon Jacob Grimm gestöhnt haben soll: „Es sind mehr Treppen auf den Straßen als in den Häusern.“Dieser Spruch steht knapp unterhalb des Landgrafenschlosses an die Treppenstufen gepinselt, kurz bevor man nach beschwerlichem Aufstieg sein Ziel erreicht.
80 000 Einwohner hat dieses Freilichtmuseumsidyll, jeder dritte davon studiert. Und feiert gern. Aber nicht wie andere „junge Städte“in coolen Clubs, sondern engen, dampfenden Kneipen, die stellenweise wie imprägniert scheinen mit Sound und Flair der Siebziger- und Achtzigerjahre – bis hin zum klaren QualmerStatement an der Eingangstür des Gewölbekeller-Pubs „Hinkelstein“: „Hier würde Helmut Schmidt auch rauchen“verkündet der Aufkleber.
Ähnliche Betriebstemperatur herrscht im „Sudhaus“– hier können Besucher mit Glück ihre gesamte Zeche am Ende des Abends beim Wirt auf dem Deckel lassen – vorausgesetzt sie würfeln an der Kasse einen Sechserpasch.
„Delirium“– noch so ein Name wie aus dem Deutschen Gaststättenmuseum, aber Pflichtstation, denn in diesem engen, ziemlich abgerockten Laden wartet der Wirt mit „Rostigem Nagel“, Marburgs Kult-Kurzem: Ingwerschnaps mit Tabasco. Allzu sehr abgefüllte Heimweg-Torkler pinkeln anschließend schon mal in den engen Durchgang zwischen Rathaus und Schuhmarkt. Reaktion der Anwohner: Keine Polizei, keine Anzeige. Aber einen neuen Namen schraubten sie – thematisch passend – vor Jahren an die Mauer: Schiffergasse ...
Hier verzeiht man seinen Studenten einiges – getreu dem allgegenwärtigen Motto „Andere Städte haben eine Uni, Marburg ist eine“. 1527 gegründet vom Namensgeber Landgraf Philipp, dem Großmütigen, liegt ihr heute ältester Teil in Hogwarts – so der Spitzname für das an Harry Potters düstere Zauberschule erinnernde, neugotische Gebäude am Lahntor. Die turnhallengroße, sehenswerte und nur im Rahmen von Führungen zu besichtigende Aula unter geschnitzter Kassettendecke ist gerahmt von sieben Monumentalgemälden aus der Stadtgeschichte:
Gleich das erste zeigt die Heilige Elisabeth, die sich aufopferungsvoll um Kranke gekümmert hat und Patronin von Marburgs größter Kirche ist – und genaugenommen auch von „Kunst by call“: Wer per Telefon die Zahlen 09005 und dann Elisabeths vermutetes Geburtsdatum 7.7.1207 wählt (ohne Punkte), der lässt für die Dauer des Anrufs ein acht Meter breites Neonherz leuchten. Es hängt hoch oben am Spiegellustturm, der auf dem höchsten Punkt auf der gegenüberliegenden Hügelkette steht – und aus der Marburger Altstadt von fast jedem Punkt aus bestens zu sehen ist. Noch so ein „Oh-wie-schön“Postkarten-Panorama.