Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Jeder kann Opfer digitaler Hetze werden
Cybermobbing unter Schülern wird zu einem immer größeren Problem
BERLIN - In sozialen Netzwerken, in privaten Chatgruppen oder auf Video-Plattformen: Cybermobbing findet viele Wege und hat noch mehr Gesichter. Immer mehr Schüler werden im Internet beschimpft, ausgegrenzt oder anderweitig bloßgestellt. Rund zwei Millionen der knapp elf Millionen Kinder und Jugendlichen haben damit bereits Erfahrungen sammeln müssen. Das geht aus einer Studie des Bündnisses gegen Cybermobbing und der Techniker Krankenkasse (TK) hervor. Nach 2013 und 2017 wurden dafür rund 6000 Schüler, Eltern und Lehrer befragt.
Seit der letzten Untersuchung ist der Anteil der Betroffenen um mehr als 36 Prozent gestiegen. Für TK-Vorstandschef Jens Baas nimmt der Zuwachs „dramatische Ausmaße“an. Die Folgen sind gravierend. „Ein Viertel aller Kinder, die schon einmal gemobbt wurden, hatte sogar Selbstmordgedanken“, berichtet Baas. Rund 30 Prozent greifen zu Alkohol oder zu Tabletten, um die erlebten Verletzungen zu verarbeiten. Mobbing kann massive Folgen für die Gesundheit nach sich ziehen. Ängste, Depressionen oder Schlafstörungen gehören dazu.
Selbst Grundschüler sind vor Herabwürdigungen im Internet nicht ausreichend geschützt. Schon jedes zehnte Kind der ersten Schulklassen hat Mobbingerfahrung gemacht. Nach Einschätzung von Uwe Leest, der das Bündnis leitet, wird heute härter und gezielter gemobbt als vor drei Jahren. Die Corona-Krise wirke dabei als Verstärker eines Trends. Denn die Pandemie hat noch mehr Aktivitäten der Kinder und Jugendlichen ins Netz verlagert. Ein Teil des Unterrichts findet digital statt, die jungen Menschen dürfen sich nicht wie gewohnt sehen und weichen verstärkt in soziale Netzwerke aus.
Das Internet ist ein fester Bestandteil der sozialen Kontakte geworden. Schon Sechsjährige verbringen durchschnittlich 1,6 Stunden täglich im Netz. Mit zunehmendem Alter wächst die Bedeutung des Internets. 18-Jährige sind durchschnittlich 3,7 Stunden online. Dabei spielen neben Homeschooling auch Streamingdienste oder Spiele eine große Rolle. Nicht einmal die Hälfte der Eltern kontrolliert streng den
Aufenthalt im Netz. Schon die Sechsbis Zehnjährigen dürfen mehrheitlich alleine surfen.
Beleidigungen sind die häufigste Form des Mobbings. Aber es werden auch Lügen über die Opfer verbreitet oder einzelne von Gruppen in den sozialen Netzwerken ausgegrenzt. Gerade dies empfinden die Opfer als verletzend. Große Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen gibt es der Studie zufolge nicht. Jede und jeder kann zum Opfer werden.
Der Experte sieht mehrere Gründe für diese Entwicklung. „Die Täter kommen fast immer ungestraft davon“, sagt er. Ohne Sanktionen blieben Verhaltensänderungen aber aus. Auch die Anonymität im Internet biete einen Anreiz, andere zu drangsalieren. Die Motivation ist oft Ärger mit der Person, die sie im Netz angreifen. Auch Langeweile, Spaß oder Rache zählen zu den häufigsten Motiven der Täter.
Die Schüler sind je nach Schulform unterschiedlich von Mobbing betroffen. An Grundschulen und Gymnasien hat nur jeder Zehnte damit Erfahrungen machen müssen. An Realschulen sind es bereits 16 Prozent und an Hauptschulen 17 Prozent.
Die Eltern sind Lees zufolge mit den durch die Digitalisierung entstehenden neuen Anforderungen oft überfordert. „Hier müssen wir Hilfsangebote anbieten“, sagt er. Die Befragung der Eltern ergab zwar, dass fast alle Eltern Mobbing als gefährliches Problem erkannt haben. Doch nur etwas mehr als die Hälfte der Befragten
sieht sich über die strafrechtlichen Konsequenzen von Cybermobbing gut informiert.
Ebenso wissen die Lehrer mit der Entwicklung nicht umzugehen. Viele kennen sich mit mit diesen Delikten, zu denen auch Cyberstalking oder sexuelle Übergriffe gehören, zu wenig aus. Deshalb fordert das Bündnis eine bessere Fortbildung der Lehrkräfte oder auch den Einsatz von außerschulischen Fachkräften für die Beratung und Aufklärung der Kinder und Jugendlichen. Auch die Politik sei gefragt, erläutert Lees. Es müsse ein Cybermobbing-Gesetz nach dem Vorbild Österreichs geben, mit dem dieses Verhalten sanktioniert werden kann. „Täter und Opfer müssen wissen, dass Cybermobbing kein Kavaliersdelikt ist“, fordert er.