Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Wie Corona die Arbeit von Notärzten verändert
Weniger Patienten trauen sich, bei Beschwerden die 112 zu wählen
RAVENSBURG - Bei einem medizinischen Notfall ist schnelle Hilfe oft überlebenswichtig. Wer zum Beispiel einen Herzinfarkt oder einen Schlaganfall erleidet, hat bessere Überlebenschancen, wenn er innerhalb kürzester Zeit ins Krankenhaus kommt. Seit Februar müssen die Rettungskräfte aber nicht nur schnell, sondern auch besonders vorsichtig sein. Schließlich ist es immer möglich, dass der Hilfe suchende Patient mit dem neuen Coronavirus infiziert ist. Die „Schwäbische Zeitung“begleitete eine Notärztin der Ravensburger Oberschwabenklinik einen Nachmittag bei ihren Einsätzen.
Judith Mecking ist groß, schlank und sportlich. Als ihr Piepser losgeht, lässt die 41-jährige Fachärztin für Anästhesie und Pädiatrie sofort alles stehen und liegen und hechtet durch die Gänge und das Treppenhaus des Elisabethen-Krankenhauses (EK). Ihr Ziel ist die Notaufnahme, wo draußen ein Notarztwagen der Johanniter samt Fahrer bereits mit laufendem Motor abfahrbereit wartet. Die Johanniter und das Deutsche Rote Kreuz wechseln sich in Ravensburg mit den Einsätzen ab. Während der Fahrer mit Blaulicht und Sirene losfährt, informiert sich Judith Mecking auf ihrem iPad über die Details des Einsatzes: Ein 89-Jähriger ist in seiner Küche zusammengebrochen und kommt nicht mehr hoch, der Sohn hat den Notarzt verständigt.
Dummerweise wohnt der Mann nicht gerade um die Ecke, sondern in Blitzenreute, und an dem Nachmittag herrscht viel Verkehr. Manche Autofahrer lenken ihr Fahrzeug sofort an den Straßenrand, wenn sie des von hinten nahenden Notarztwagens gewahr werden, andere sind schwerer von Begriff und reagieren erst im letzten Moment. Der Notarztwagen
muss an einigen Stellen einen gefährlichen Slalom einlegen, und der mitfahrenden Journalistin wird etwas flau im Magen.
Als der Notarztwagen in der engen Wohnstraße eintrifft, sind die Rettungssanitäter im Sanka schon da. Im Gegensatz zu früher sind alle Helfer coronagerecht ausgestattet: mit FFP2-Masken, Handschuhen und teils Schutzbrillen oder Visieren. „Da man mit Aerosolen rechnen muss, sind Brillen die bessere Wahl“, erklärt Andreas Straub, Chefarzt der Anästhesie am EK. Schließlich wissen die Notärzte und Rettungssanitäter bei keinem Einsatz, was sie vorfinden – oder ob der mutmaßliche Herzinfarktpatient möglicherweise coronapositiv ist. „Luftnot zum Beispiel kann mit beidem zusammenhängen. Wir wissen nicht sofort, was wirklich vorliegt. Deshalb tun wir bei jedem so, als sei er positiv. So sind wir am besten davor geschützt, selbst infiziert zu werden.“
Als Judith Mecking in der Wohnküche des älteren Herrn eintrifft, sitzt er noch am Boden und klammert sich krampfhaft an einen Küchenstuhl fest. Er ist gestürzt und hat starke Schmerzen im Bein, wahrscheinlich ein Oberschenkelhalsbruch. Die Ärztin verabreicht ihm ein starkes Schmerzmittel und ein Mittel gegen Übelkeit, weil es das Schmerzmittel in sich hat. Ohne könnte er nicht bewegt werden, weil das zu weh tun würde. Die Sanitäter hingegen dürfen solche starken Medikamente nicht verabreichen.
Das Mittel wirkt auf jeden Fall schnell. Nach gutem Zureden lässt der Patient schließlich den Küchenstuhl los, und die Sanitäter können ihn auf eine Trage legen und anschließend vorsichtig in den Sanka bringen. Dann geht es zum Röntgen ins EK, und die Notärztin signalisiert dem Fahrer ihres Wagens, dass sie theoretisch für den nächsten Einsatz bereit wäre, denn der alte Mann schwebt nicht weiter in Gefahr.
Zurück im Krankenhaus, geht der Piepser nach zehn Minuten zum zweiten Mal los. „Das ist ganz unterschiedlich“, sagt Mecking zur Häufigkeit
der Einsätze an den Notarzttagen, während sie wieder durch die Gänge und das Treppenhaus zurück zur Notaufnahme spurtet. „Manchmal passiert einen halben Tag lang gar nichts, und manchmal hat man einen Einsatz nach dem anderen.“Ihr persönlicher „Rekord“während der siebenjährigen Tätigkeit als Notärztin waren 18 Einsätze in 24 Stunden. Ansonsten könne man zwischendurch aber auch mal schlafen oder zumindest ausruhen. Da an der OSK in Ravensburg insgesamt 42 Notärzte zur Verfügung stehen, habe man ein oder zwei solcher Dienste im Monat.
Gleicher Wagen, gleicher Fahrer, diesmal geht es durch die Innenstadt nach Weißenau, wo eine Frau bei der Arbeit zusammengebrochen ist. Die 40-Jährige leidet seit geraumer Zeit an unerklärlichen Ohnmachtsanfällen, ist aber schon wieder ansprechbar, als Judith Mecking eintrifft. Da die Patientin große Angst hat, beruhigt sie sie erst mal. Auch die Angestellte muss zur Beobachtung ins Krankenhaus.
Insgesamt beobachten die Notärzte während der Corona-Pandemie, dass die Menschen sehr zurückhaltend geworden sind, bevor sie die 112 wählen. „Es ist auffällig, wie stark die Zahl der internistischen Notfälle abgenommen hat“, sagt Chefarzt Straub. „Die Angst, sich im Krankenhaus zu infizieren, ist sehr groß.“Aber unbegründet, beteuert er. In wöchentlichen Abständen werden alle Mitarbeiter mit Patientenkontakt getestet. Es sei mit Sicherheit gefährlicher, bei starken Schmerzen in der Brust, die auf einen Herzinfarkt hindeuten können, abzuwarten, als schnell ins Krankenhaus zu kommen. Auch alle Patienten, die schon in den Häusern der OSK liegen, sind vor der Aufnahme getestet worden, Besuche derzeit nur in wenigen Ausnahmen erlaubt.
Die Sicherheitsvorkehrungen scheinen auch zu funktionieren. Die wenigen Mitarbeiter, die sich während der zweiten Welle infiziert haben, fingen sich das Virus laut Pressesprecher Winfried Leiprecht außerhalb der Kliniken.