Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Der Modernisierer Frankreichs
Der ehemalige Präsident und Schmidt-Freund Valéry Giscard d’Estaing ist im Alter von 94 Jahren gestorben
PARIS - Frankreichs Altpräsident Valéry Giscard d'Estaing galt als Reformer. Gemeinsam mit Helmut Schmidt stärkte er das deutsch-französische Tandem. Nun starb er 94jährig.
Jahrzehnte vor Emmanuel Macron gab es in Frankreich bereits einen Präsidenten, der die alten Codes zu brechen versuchte. Valéry Giscard d’Estaing war der Mann, der Frankreich 1974 nach Charles de Gaulle und Georges Pompidou vom Mief der Tradition befreien wollte. Ausgerechnet er, ein Aristokrat aus konservativer Familie, wollte die Moderne verkörpern. Schon im Wahlkampf setzte der Zentrumspolitiker Akzente, wie sie das Land nicht kannte: „Ich will, dass meine Kampagne im Ton so freimütig wie möglich ist“, sagte er bei einer Pressekonferenz. Die Franzosen seien unnötig steif. Und Giscard wollte sie locker machen: Mit Familienfotos, wie man sie bisher nur aus den USA kannte, Bildern von ihm beim Baden oder nach dem Fußballspiel mit nacktem Oberkörper in der Umkleidekabine.
Ähnlich wie Emmanuel Macron heute wollte „VGE“, der am Mittwochabend an den Folgen von Covid-19 starb, die Regeln brechen. Den „französischen Kennedy“nannten sie den hochgewachsenen Vater von vier Kindern, als er mit 48 Jahren zum jüngsten Präsidenten des Landes gewählt wurde. Es war der Höhepunkt
einer Karriere, die der 1926 im damals französisch besetzten Koblenz geborene Adelige in den Eliteschulen seines Landes begann.
Es folgte ein Abgeordnetenmandat und gleich zweimal der Posten des Finanzministers. Das erste Mal war er erst 36 und damit so alt wie Macron bei seinem ersten Ministeramt. Nach seinem Sieg gegen den Sozialisten François Mitterrand bei den Präsidentschaftswahlen modernisierte Giscard die französische Gesellschaft: Abtreibung und Ehescheidung wurden möglich, die
Volljährigkeit auf 18 Jahre gesenkt. „Seine Amtszeit war ein intensiver Moment der Reformen“, schrieb Macron in seinem Nachruf.
In Bundeskanzler Helmut Schmidt fand der überzeugte Europäer einen Partner, mit dem er die Grundlagen für die europäische Währungsunion legte. Als Finanzminister in den 1970er-Jahren hatten sie sich besser kennengelernt. „Wir waren die beiden einzigen Politiker aus großen europäischen Ländern, die sich für monetäre Fragen interessierten“, sagte Giscard, der fließend Deutsch sprach, vor Jahren der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“. 1974 kamen sie beide fast am gleichen Tag an die Macht. „Helmut Schmidt war mir ein wahrer Freund, ein treuer Freund“, erinnerte sich Giscard in mehreren Interviews.
Fast gleichzeitig schieden die beiden auch wieder aus dem Amt: der eine 1981, der andere 1982. Giscard verwandt es nie, dass er den ElyséePalast nach seiner Niederlage gegen Mitterrand schon nach einer Amtszeit wieder verlassen musste. Unvergessen ist seine Abschiedsrede, die er mit einem beleidigten „Au revoir“beendete, um dann theatralisch aufzustehen und zu gehen. Die Geste zeigte die ganze Arroganz, die Giscard als Präsident immer weiter von seinen Landsleuten entfernt hatte. Ähnlich wie heute Macron warfen ihm die Franzosen vor, das Land wie ein Monarch zu regieren. Er selbst fühlte sich als „unverstandener Präsident“,
dessen Leistung nicht genug gewürdigt wurde. In einer Umfrage aus dem Jahr 2011 nannten nur drei Prozent seinen Namen bei der Frage, welcher Staatschef Frankreich am meisten verändert habe.
Der Vollblutpolitiker glaubte nach seiner Niederlage 1981 an eine zweite Chance. Er arbeitete sich wieder nach oben, wurde erst Departementsrat, dann Abgeordneter und Regionalpräsident seiner Heimatregion Auvergne. Die Präsidentschaftskandidatur der Konservativen 1998 schnappte ihm allerdings sein Erzfeind Jacques Chirac weg. Ihm gab Giscard auch die Schuld für die Ablehnung der europäischen Verfassung bei der Volksabstimmung 2005. Er hatte inzwischen seinen Ehrgeiz von der nationalen auf die europäische Ebene verlagert und nicht nur den Verfassungstext ausgearbeitet, sondern mit Flagge und Hymne alles für die europäische Zukunft vorbereitet. Doch die Franzosen und Niederländer machten ihm mit ihrem Nein einen Strich durch die Rechnung.
Nach der Niederlage wurde es ruhig um Giscard, der zuletzt im Mai Schlagzeilen machte, weil eine WDRJournalistin ihm sexuelle Belästigung vorwarf. Nur selten zeigte sich der Altpräsident, der im Herbst zweimal im Krankenhaus behandelt wurde, noch in der Öffentlichkeit. Seinen letzten öffentlichen Auftritt hatte er im September 2019 – bei der Trauerfeier für seinen Dauerrivalen Chirac.