Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Mächtige Banker in Angst
Finanzindustrie von London fühlt sich von ihrer Regierung im Stich gelassen – No-Deal-Brexit droht, wenn Gespräche scheitern
LONDON - Mit der Unsicherheit der Corona-Pandemie müssen Börsianer weltweit fertig werden. Für die Marktteilnehmer in der City of London, dem Teil der britischen Hauptstadt, in der die bislang so mächtige und in ganz Europa tonangebende Finanzinstrie des Vereinigten Königreichs sitzt, kommt aber ein weiterer massiver Störfaktor hinzu: die Ungewissheit über den Ausgang der Brexit-Verhandlungen mit der Europäischen Union.
Allen Warnungen erfahrener Handelsexperten zum Trotz hielt die konservative Regierung von Premierminister Boris Johnson nämlich an ihrem Zeitplan fest: Nach dem vollzogenen Austritt Ende Januar muss das Vereinigte Königreich in der Silvesternacht auch die Übergangsphase hinter sich lassen, in der für Unternehmen und Konsumenten alles beim Alten blieb. Nun droht 2021 erneut das Abrutschen ins Chaos (No Deal) – es sei denn, den Verhandlern gelingt in den verbleibenen wenigen Wochen doch noch eine Einigung. Die sei dringend nötig, warnt Joshua Hardie vom Unternehmerverband CBI: „Covid hat die Belastbarkeit der Wirtschaft aufs Äußerste strapaziert.“Jeder weitere Tag der Brexit-Unsicherheit koste die Unternehmen zusätzliches Geld.
Selbst wenn es doch noch zum Deal kommt, wäre dieser beschränkt auf Zollfreiheit für Güter und Absprachen bei der Fischerei. Von (Finanz-)Dienstleistungen war zuletzt zwischen London und Brüssel kaum noch die Rede. Ohnehin fühlen sich die einstigen „Herren der Welt“, wie die Finanzmanager der City sich über viele Jahr lang sahen, von Johnson und seinem Regierungsteam, darunter dem früheren Goldman Sachs-Banker und jetzigen Finanzminister Rishi Sunak, im Stich gelassen. Bei den eingeschworenen Brexiteers bestehe wohl der Eindruck, glaubt Miles Celic von der Lobbygruppe TheCityUK, die Finanzindustrie
sei „groß und stark genug, um auf sich selbst aufzupassen“.
Der wichtigste internationale Finanzplatz der Welt verfügt über Jahrhunderte lange Erfahrung, eine große Zahl von Händlern, den Vorteil der englischen Sprache und die Location zwischen den Wirtschaftszentren in den USA und Asien. Auf solche Standortvorteile hat diese Woche der frühere Bundesbankchef und langjährige Verwaltungsratspräsident der Schweizer Großbank UBS, Axel Weber,
in der „Financial Times“hingewiesen. Solange in der EU keine Einigkeit herrsche, bleibe Londons Rang unangefochten: „In Europa besteht die Gewohnheit, die nationale Karte zu spielen. Das hat Europa in der Vergangenheit geschwächt, und wird es auch in Zukunft tun.“
Doch hat der Ausstieg aus dem größten Binnenmarkt der Welt Folgen: Die Finanzströme würden von Januar an „weniger liquide“seien, sagt die irische EU-Finanzmarktkommissarin
Mairead McGuinness. Brüssel pocht für die zukünftige Arbeit britischer Finanzfirmen im Binnenmarkt auf die „Äquivalenz“der Regularien auf beiden Seiten des Ärmelkanals, behält sich zudem einen Widerruf binnen 30 Tagen vor. Nur beim Clearing von Derivaten, die in Euro gehandelt werden, erhielten die beteiligten Unternehmen eine Übergangsfrist von 18 Monaten.
Seit der Volksabstimmung im Juni 2016 sind dem Brexit-Tracker der Beratungsfirma EY zufolge mindestens 7500 Jobs aus der City auf den Kontinent abgewandert; weitere 2800 Arbeitsplätze sollen an den Finanzplätzen Dublin, London, Amsterdam oder Frankfurt entstehen. Banken mit ihrem Stammsitz auf der Insel haben Anlagen im Wert von mindestens 1,2 Billionen Pfund (1,34 Billionen Euro) in die EU verlagert, etwa 14 Prozent ihres Vermögens.
Eine andere Art der Verlagerung brachte Covid-19 mit sich. Rascher und umfassender als andere Wirtschaftszweige haben die Banken, Anwaltskanzleien und Technikfirmen der Londoner City ihre Leute nach Hause geschickt. Viel spricht dafür, dass es für viele Angestellte auch 2021 dabei bleibt. Die Angestellten einer IT-Firma im Dienst diverser Investmentbanken, darunter auch der UBS, werden auf jeden Fall das Jubiläum ein Jahr Homeoffice feiern. „Mindestens noch bis Ende März“solle der jetzige Zustand weitergehen, hieß es kürzlich.
Finanzdienstleister und ihre Angestellten trugen 2018 laut Statistikamt ONS sieben Prozent zum Bruttoinlandsprodukt Großbritanniens bei; die Branche zahlte zuletzt rund 75 Milliarden Pfund (84 Milliarden Euro) Steuern und Abgaben pro Jahr und war damit für etwa ein Zehntel des gesamten Steueraufkommens verantwortlich. Der Brexit, egal, wie er ausfällt, bringt weniger Geschäft am Finanzplatz, was weniger Einzahlungen in die durch Sars-CoV-2 leergefegte Staatskasse von Premier Boris Johnson bedeutet.
Dabei hat Finanzminister Sunak Geld dringend nötig. Der Budgetbehörde OBR zufolge erleidet die Insel im laufenden Jahr mit minus 11,3 Prozent den schwersten BIP-Rückgang der G7-Gruppe westlicher Industrienationen. Die Staatshilfen für Arbeitnehmer, Selbstständige und Unternehmen
haben das Defizit immens in die Höhe getrieben. Nach der Hälfte des Fiskaljahres lag die Neuverschuldung bei 208 Milliarden Pfund (231 Milliarden Euro) und damit um ein Viertel höher als im schlimmsten Schuldenjahr nach dem globalen Finanzcrash 2008.