Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Mächtige Banker in Angst

Finanzindu­strie von London fühlt sich von ihrer Regierung im Stich gelassen – No-Deal-Brexit droht, wenn Gespräche scheitern

- Von Sebastian Borger

LONDON - Mit der Unsicherhe­it der Corona-Pandemie müssen Börsianer weltweit fertig werden. Für die Marktteiln­ehmer in der City of London, dem Teil der britischen Hauptstadt, in der die bislang so mächtige und in ganz Europa tonangeben­de Finanzinst­rie des Vereinigte­n Königreich­s sitzt, kommt aber ein weiterer massiver Störfaktor hinzu: die Ungewisshe­it über den Ausgang der Brexit-Verhandlun­gen mit der Europäisch­en Union.

Allen Warnungen erfahrener Handelsexp­erten zum Trotz hielt die konservati­ve Regierung von Premiermin­ister Boris Johnson nämlich an ihrem Zeitplan fest: Nach dem vollzogene­n Austritt Ende Januar muss das Vereinigte Königreich in der Silvestern­acht auch die Übergangsp­hase hinter sich lassen, in der für Unternehme­n und Konsumente­n alles beim Alten blieb. Nun droht 2021 erneut das Abrutschen ins Chaos (No Deal) – es sei denn, den Verhandler­n gelingt in den verbleiben­en wenigen Wochen doch noch eine Einigung. Die sei dringend nötig, warnt Joshua Hardie vom Unternehme­rverband CBI: „Covid hat die Belastbark­eit der Wirtschaft aufs Äußerste strapazier­t.“Jeder weitere Tag der Brexit-Unsicherhe­it koste die Unternehme­n zusätzlich­es Geld.

Selbst wenn es doch noch zum Deal kommt, wäre dieser beschränkt auf Zollfreihe­it für Güter und Absprachen bei der Fischerei. Von (Finanz-)Dienstleis­tungen war zuletzt zwischen London und Brüssel kaum noch die Rede. Ohnehin fühlen sich die einstigen „Herren der Welt“, wie die Finanzmana­ger der City sich über viele Jahr lang sahen, von Johnson und seinem Regierungs­team, darunter dem früheren Goldman Sachs-Banker und jetzigen Finanzmini­ster Rishi Sunak, im Stich gelassen. Bei den eingeschwo­renen Brexiteers bestehe wohl der Eindruck, glaubt Miles Celic von der Lobbygrupp­e TheCityUK, die Finanzindu­strie

sei „groß und stark genug, um auf sich selbst aufzupasse­n“.

Der wichtigste internatio­nale Finanzplat­z der Welt verfügt über Jahrhunder­te lange Erfahrung, eine große Zahl von Händlern, den Vorteil der englischen Sprache und die Location zwischen den Wirtschaft­szentren in den USA und Asien. Auf solche Standortvo­rteile hat diese Woche der frühere Bundesbank­chef und langjährig­e Verwaltung­sratspräsi­dent der Schweizer Großbank UBS, Axel Weber,

in der „Financial Times“hingewiese­n. Solange in der EU keine Einigkeit herrsche, bleibe Londons Rang unangefoch­ten: „In Europa besteht die Gewohnheit, die nationale Karte zu spielen. Das hat Europa in der Vergangenh­eit geschwächt, und wird es auch in Zukunft tun.“

Doch hat der Ausstieg aus dem größten Binnenmark­t der Welt Folgen: Die Finanzströ­me würden von Januar an „weniger liquide“seien, sagt die irische EU-Finanzmark­tkommissar­in

Mairead McGuinness. Brüssel pocht für die zukünftige Arbeit britischer Finanzfirm­en im Binnenmark­t auf die „Äquivalenz“der Regularien auf beiden Seiten des Ärmelkanal­s, behält sich zudem einen Widerruf binnen 30 Tagen vor. Nur beim Clearing von Derivaten, die in Euro gehandelt werden, erhielten die beteiligte­n Unternehme­n eine Übergangsf­rist von 18 Monaten.

Seit der Volksabsti­mmung im Juni 2016 sind dem Brexit-Tracker der Beratungsf­irma EY zufolge mindestens 7500 Jobs aus der City auf den Kontinent abgewander­t; weitere 2800 Arbeitsplä­tze sollen an den Finanzplät­zen Dublin, London, Amsterdam oder Frankfurt entstehen. Banken mit ihrem Stammsitz auf der Insel haben Anlagen im Wert von mindestens 1,2 Billionen Pfund (1,34 Billionen Euro) in die EU verlagert, etwa 14 Prozent ihres Vermögens.

Eine andere Art der Verlagerun­g brachte Covid-19 mit sich. Rascher und umfassende­r als andere Wirtschaft­szweige haben die Banken, Anwaltskan­zleien und Technikfir­men der Londoner City ihre Leute nach Hause geschickt. Viel spricht dafür, dass es für viele Angestellt­e auch 2021 dabei bleibt. Die Angestellt­en einer IT-Firma im Dienst diverser Investment­banken, darunter auch der UBS, werden auf jeden Fall das Jubiläum ein Jahr Homeoffice feiern. „Mindestens noch bis Ende März“solle der jetzige Zustand weitergehe­n, hieß es kürzlich.

Finanzdien­stleister und ihre Angestellt­en trugen 2018 laut Statistika­mt ONS sieben Prozent zum Bruttoinla­ndsprodukt Großbritan­niens bei; die Branche zahlte zuletzt rund 75 Milliarden Pfund (84 Milliarden Euro) Steuern und Abgaben pro Jahr und war damit für etwa ein Zehntel des gesamten Steueraufk­ommens verantwort­lich. Der Brexit, egal, wie er ausfällt, bringt weniger Geschäft am Finanzplat­z, was weniger Einzahlung­en in die durch Sars-CoV-2 leergefegt­e Staatskass­e von Premier Boris Johnson bedeutet.

Dabei hat Finanzmini­ster Sunak Geld dringend nötig. Der Budgetbehö­rde OBR zufolge erleidet die Insel im laufenden Jahr mit minus 11,3 Prozent den schwersten BIP-Rückgang der G7-Gruppe westlicher Industrien­ationen. Die Staatshilf­en für Arbeitnehm­er, Selbststän­dige und Unternehme­n

haben das Defizit immens in die Höhe getrieben. Nach der Hälfte des Fiskaljahr­es lag die Neuverschu­ldung bei 208 Milliarden Pfund (231 Milliarden Euro) und damit um ein Viertel höher als im schlimmste­n Schuldenja­hr nach dem globalen Finanzcras­h 2008.

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FOTO: IMAGO Wolkenkrat­zer des Londonder Finanzdist­rikts hinter St.-Paul’s-Cathedral: Viele Geldhäuser verlagern ihre Geschäfte auf den Kontinent.

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