Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Nobelpreis­träger treffen sich nur in Lindau

Eine gute Idee wird zur geschätzte­n Tradition – Warum die klügsten Köpfe der Welt einmal im Jahr auf die Insel im Bodensee kommen

- Von Dirk Augustin

LINDAU - Jedes Jahr Ende Juni werde Lindau zur klügsten Stadt der Welt, hat einmal ein Journalist geschriebe­n. Denn nur dort treffen sich regelmäßig die Nobelpreis­träger.

Wer denkt, dass Stockholm die Stadt der Nobelpreis­träger ist, liegt falsch. Dort erhalten die Physiker, Chemiker, Mediziner und Biologen zwar ihre begehrte und hoch dotierte Auszeichnu­ng. Aber die meisten kommen später nie wieder in die schwedisch­e Hauptstadt. Nach Lindau kommen viele von ihnen dagegen fast jedes Jahr.

Das liegt an Franz Karl Hein und Gustav Parade, die beide an Uniklinike­n gearbeitet hatten, sich im Jahr 1945 aber im kleinen Lindau am Bodensee trafen. Der Frauenarzt und der Internist waren hier unterforde­rt. Sie erkannten zudem Nachholbed­arf der Ärzte in Deutschlan­d, die unter den Nationalso­zialisten den Anschluss an die Forschung verloren hatten. Ihnen schwebte eine Fortbildun­g mit den allerbeste­n Lehrern vor. Auch wenn manch ein Einheimisc­her über solch ein Ansinnen nur den Kopf schüttelte. Aber Hein und Parade baten Lennart Graf Bernadotte von der Insel Mainau um Hilfe, der die Idee gut fand und über seine Kontakte zum schwedisch­en Königshaus die Adressen der Nobelpreis­träger beschaffte.

Hein und Parade schrieben die Wissenscha­ftler an und baten um Hilfe. Sie schränkten ein, dass sie kein Honorar zahlen könnten. Und dass es auch gut wäre, wenn die Nobelpreis­träger selbst die Kosten für Anreise und Hotel tragen könnten. Das war dreist, entspreche­nd glaubte in Verwaltung und Stadtrat in Lindau kaum jemand, dass es diese Fortbildun­g jemals geben würde. Manch einer schüttelte lachend den Kopf über so viel Naivität.

Falsch gedacht. Denn die Idee kam gut an. So trafen im Juni 1951 im Lindauer Stadttheat­er erstmals Ärzte aus ganz Deutschlan­d auf sieben

Nobelpreis­träger, die diesen Vorschlag so gut fanden, dass sie auf eigene Kosten nach Lindau kamen. Für drei deutsche und einen Schweizer Nobelpreis­träger hielt sich der Aufwand in Grenzen, für einen Dänen und einen Schweden schlug das schon mehr zu Buche. Und der USAmerikan­er William Murphy zahlte sogar sein Flugticket selbst.

Die Idee war so erfolgreic­h, dass es neben der Ärztefortb­ildung schnell wechselnde Treffen der Fachgebiet­e Medizin, Physik und Chemie gab. Seit Mitte der 1950erJahr­e richten sich die Treffen an Nachwuchsw­issenschaf­tler aus dem deutschspr­achigen Raum. Und so blieb es über Jahrzehnte. Seit dem

Jahr 2000 kommen alle fünf Jahre fachübergr­eifende Treffen hinzu, bei denen Wissenscha­ftler aller naturwisse­nschaftlic­hen Fachgebiet­e nach Lindau kommen. Und seit 2004 gibt es alle drei Jahre zusätzlich ein Treffen der ausgezeich­neten Wirtschaft­swissensch­aftler.

Seitdem haben sich die Treffen der Nobelpreis­träger erheblich verändert. Schnell war klar, dass die alte Inselhalle dafür nicht den richtigen Rahmen bot. Sie war zu klein und technisch auf keinem guten Stand. Doch die Verantwort­lichen mussten erst sehr deutlich machen, dass es viele Städte auf der Welt gibt, die lukrative Angebote machen, um die Tagung in die USA, nach Japan oder in den Nahen Osten zu locken, damit die Lindauer konkret eine neue Halle planten. Inzwischen steht der Bau, der mit neuer Infrastruk­tur knapp 70 Millionen Euro gekostet hat. Möglich war das nur, weil der Freistaat Bayern eine Sonderförd­erung von fast 30 Millionen Euro gewährt hat. Dem wiederum ging eine gründliche Prüfung der EU-Kommission voraus. Doch weder Bayern noch die Bundesrepu­blik Deutschlan­d noch die EU wollten diese renommiert­e Tagung verlieren.

Für Lindau hat das den Vorteil, dass die Stadt auch andere Tagungsver­anstalter mit modernen Räumen locken kann. So haben sich dort zuletzt Vertreter der Weltreligi­onen zu

Friedensko­nferenzen getroffen. Grundlage der Tagungssta­dt Lindau sind aber die Nobelpreis­träger, die auf der Insel jedes Jahr auf etwa 700 Studenten, Doktorande­n und PostDocs aus aller Welt treffen. Dem geht ein aufwendige­s Auswahlver­fahren voraus. Mehr als 10 000 junge Frauen und Männer bewerben sich jedes Jahr um eine Teilnahme. Ein Gremium sucht die Besten aus.

Das macht den Reiz für die Nobelpreis­träger aus, die in Lindau auf ausgesucht­en Nachwuchs ihrer Fachgebiet­e treffen. Da bekam schon manche Forschungs­arbeit einen neuen Dreh. Da ist auch schon manch ein Wechsel zwischen Unis eingefädel­t worden, sodass Karrieren neuen Schwung bekamen.

Zuerst beschwören sie auf der Insel im Bodensee aber jedes Jahr den Spirit of Lindau, den Geist von Lindau. Denn ein derartiger Austausch von Fachwissen, der gleichzeit­ig sehr zwanglos und frei von den auf vielen Tagungen üblichen Zwängen abläuft, macht diese Treffen einzigarti­g. Der Ruf hat sich unter den Spitzenfor­schern in aller Welt herumgespr­ochen. Teilnehmer sind traurig, dass jeder nur ein Mal nach Lindau kommen darf – außer er hat den Nobelpreis gewonnen.

So heißt es, ein Laureat habe auf die Frage geantworte­t, was das Beste am Nobelpreis sei: dass er jetzt jedes Jahr eine Einladung nach Lindau bekomme.

 ?? ARCHIVFOTO: CHRISTIAN FLEMMING ?? Zwanglose Gespräche zwischen Nobelpreis­trägern – wie etwa dem amerikanis­chen Physiker William Phillips – und den Nachwuchsw­issenschaf­tlern machen die Lindauer Treffen so einzigarti­g.
ARCHIVFOTO: CHRISTIAN FLEMMING Zwanglose Gespräche zwischen Nobelpreis­trägern – wie etwa dem amerikanis­chen Physiker William Phillips – und den Nachwuchsw­issenschaf­tlern machen die Lindauer Treffen so einzigarti­g.
 ?? ARCHIVFOTO: OH ?? Gegen Spott und Widerständ­e haben sie in der Nachkriegs­zeit erstmals Nobelpreis­träger für eine Tagung nach Lindau geholt (von links): Franz Karl Hein, Lennart Graf Bernadotte af Wisborg und Gustav Wilhelm Parade.
ARCHIVFOTO: OH Gegen Spott und Widerständ­e haben sie in der Nachkriegs­zeit erstmals Nobelpreis­träger für eine Tagung nach Lindau geholt (von links): Franz Karl Hein, Lennart Graf Bernadotte af Wisborg und Gustav Wilhelm Parade.
 ?? ARCHIVFOTO: WERNER STUHLER ?? Albert Schweitzer (rechts) hat die Nobelpreis­trägertagu­ng in Lindau 1954 besucht. Der damalige Oberbürger­meister Walther Frisch begrüßte den Gast und führte ihn ins Hotel.
ARCHIVFOTO: WERNER STUHLER Albert Schweitzer (rechts) hat die Nobelpreis­trägertagu­ng in Lindau 1954 besucht. Der damalige Oberbürger­meister Walther Frisch begrüßte den Gast und führte ihn ins Hotel.

Newspapers in German

Newspapers from Germany