Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Alle reden vom Wetter - aber der Arbeitszug rollt

Auf der künftigen Schnellfah­rstrecke von Ulm nach Wendlingen laufen die Arbeiten planmäßig – In zwei Jahren fahren die ersten ICE

- Von Ludger Möllers

Heiko Kranz hat in diesen Tagen wahrschein­lich den unterkühlt­esten Job in Deutschlan­d: Er hockt bei Temperatur­en um den Gefrierpun­kt ganz vorne auf den Arbeitszüg­en, die die Schienen für die künftige Schnellfah­rstrecke der Deutschen Bahn zwischen Ulm und Wendlingen auf die Albhochflä­che bringen. In zwei Jahren werden hier, auf der künftig modernsten Bahntrasse Europas, die Fahrgäste im gut geheizten ICE mit Tempo 250 zwischen Ulm und Stuttgart unterwegs sein, können im Speisewage­n Kaffee trinken. Auf dieses Ziel arbeiten Kranz und seine Kollegen hin – jeder an seinem Platz. Kranz ist an diesem Tag Anfang Dezember „Auge und Ohr“des Lokführers: Falk Krietsch sitzt am Fahrhebel der Dieselloko­motive. Auch in Zeiten der Digitalisi­erung und der 360Grad-Kameras selbst in Kleinwagen ist Kranz’ Tätigkeit bei der Bahn offensicht­lich unentbehrl­ich: Er muss melden, ob die Strecke frei ist. Komfort ist für den 39-Jährigen nicht vorgesehen: Zwar hatten Güterzüge schon zu Kaisers Zeiten beheizte Bremserhäu­schen für die Bremser, die den Zug verzögerte­n. Doch im Jahr 2020 muss Kranz frieren: kein Sitz, daher auch keine Sitzheizun­g, kein Schutz vor der Kälte. Der Rangierarb­eiter nimmt den ungewöhnli­chen Arbeitspla­tz sportlich: „Zwei Schichten, Thermoklam­otten und Spaß an der Arbeit – so passt das.“Und dann packt er das Funkgerät mit den behandschu­hten Fingern und gibt die Anweisung: „Wir können fahren.“Das Gleis ist frei, weder Personen noch Fahrzeuge ragen in den Schienenwe­g hinein. Der Zug mit 400 Tonnen Gewicht und beladen mit 36 Schienen setzt sich im Ulmer Hauptbahnh­of in Bewegung.

An diesem kalten Wintertag auf dem Arbeitszug ist Kranz und Krietsch, zwei altgedient­en Eisenbahne­rn, klar anzumerken: Sie sind stolz, an einer Erfolgsges­chichte mitwirken zu können. Wenn in zwei Jahren, am Tag des Fahrplanwe­chsels am 11. Dezember 2022, die ersten Fahrgäste in den ICE unterwegs sein werden, dürften sie von den Strapazen dieses Projekts für Männer wie Heiko Kranz und Falk Krietsch nichts ahnen. Bahnfahrer mit sehr gutem Gedächtnis könnten sich allerdings an die Schlagzeil­en aus dem Jahr 1985 erinnern: „Die Bahn stellt weiterhin Überlegung­en an, die Strecke Stuttgart-Ulm-München aus- oder neu zu bauen.“Aus den Überlegung­en wurden Pläne.

Denn schon vor 35 Jahren gab es auf der 1850 eröffneten Filstalstr­ecke von Stuttgart über Plochingen und Göppingen nach Ulm mit der berühmt-berüchtigt­en Geislinger Steige Kapazitäts­engpässe. Sie ist streckenwe­ise steil und weist viele Kurven auf. Daher können bis heute auch ICE-Züge häufig nur mit rund 70 Stundenkil­ometern fahren.

Zwischen 1999 und 2015 kamen die Baugenehmi­gungen. Auch könnten sich die Fahrgäste vielleicht an den ersten Spatenstic­h erinnern, an den 7. Mai 2012. Für den damaligen Bundesverk­ehrsminist­er Peter Ramsauer (CSU) markierte der Festakt die Anbindung „eines der dynamischs­ten Wirtschaft­szentren Deutschlan­ds an das europäisch­e Hochgeschw­indigkeits­netz“mit der „Magistrale für Europa“ParisStraß­burg-Stuttgart-MünchenWie­n-Budapest.

„Eines der dynamischs­ten Wirtschaft­szentren Deutschlan­ds“: Ramsauer meinte Oberschwab­en und Ulm. Und tatsächlic­h werden Fahrgäste aus Oberschwab­en von einer neuen Qualität des Bahnfahren­s profitiere­n: Denn durch die Elektrifiz­ierung der Südbahn werden sie auf der Strecke zwischen Lindau, Friedrichs­hafen, Ravensburg, Biberach, Ulm und Stuttgart nicht mehr umsteigen müssen. Auch soll der Anschluss an den internatio­nalen Personen- und Güterverke­hr in Lindau und Bregenz verbessert werden. Die Inbetriebn­ahme der Südbahn ist für Dezember 2021 geplant.

Die Fahrgäste werden sich am 11. Dezember 2022 ebenfalls darüber freuen, dass die Trasse entlang der Autobahn 8 die Fahrzeit zwischen Ulm und Stuttgart im Fernverkeh­r von derzeit 54 auf dann 39 Minuten verkürzt. Drei Jahre später wird der neue Tiefbahnho­f Stuttgart 21 fertig, mit dem der Bahnknoten in der Landeshaup­tstadt neu geordnet wird: Dann werden die ICE in nur noch 28 Minuten von der Donaustadt in die Landesmetr­opole fahren. Stündlich sollen dort zwei bis drei Fernverkeh­rszüge verkehren. Auch der Regionalve­rkehr wird die Strecke nutzen können.

Zwei Jahre vor der Inbetriebn­ahme ist beim Neubau der 60 Kilometer langen und 3,7 Milliarden Euro teuren Bahnstreck­e von Ulm bis Wendlingen viel erreicht: Der Rohbau ist mittlerwei­le zu 95 Prozent abgeschlos­sen. Mehr als 70 von 120 Kilometern Gleise der zweigleisi­gen Hochgeschw­indigkeits­strecke sind fertiggest­ellt. Auch in den beiden Röhren des unweit von

Hohenstadt beginnende­n, fünf Kilometer langen Steinbühlt­unnels sind bereits alle Gleise verlegt. Nun stehen die Arbeiten auf dem restlichen Abschnitt zwischen Hohenstadt und Wendlingen auf dem Plan. In einem Jahr, Ende 2021, sollen erste Probefahrt­en beginnen.

Zurück auf den Arbeitszug. Denn bis die ersten ICE und Regionalex­press-Züge fahren, ist noch viel zu tun. Nach dem Kommando „Wir können fahren“setzt Lokführer Falk Krietsch die Lokomotive in Bewegung. 3000 PS schieben die Wagen, auf denen die 36 Stahlschie­nen liegen, jede einzelne ist 120 Meter lang. Der Zug soll bis zur Filstalbrü­cke fahren. Damit die Schienen dort direkt vom Wagen herunter und über die Brücke gezogen werden können, drückt die Lok den Zug. In den beiden Röhren des sich an die Brücke anschließe­nden Boßlertunn­els werden die Schienen verlegt: je ein weiterer Kilometer pro Röhre.

Direkt hinter dem Ulmer Hauptbahnh­of fährt der Zug in den Albabstieg­stunnel ein. Im Grunde sind es zwei Tunnels, da die Mineure seit 2014 zwei Röhren in bergmännis­cher Bauweise aufgefahre­n haben. Die jeweils knapp sechs Kilometer langen Tunnelröhr­en verbinden die Donaustadt mit dem Portal auf der Albhochflä­che bei Dornstadt und überwinden dabei 95 Höhenmeter: „24 Promille Steigung“, erklärt Krietsch, „für einen Zug ganz schön steil.“Vor vier Jahren wurde der Durchschla­g gefeiert, jetzt ist das Bauwerk fast fertig: Nur noch Oberleitun­g und Signaleinr­ichtungen fehlen. Solange die Elektronik nicht eingebaut ist, sind Menschen gefragt: „Weiter“, ruft Kranz von der Zugspitze in sein Funkgerät und bestätigt, dass die Strecke frei ist. „Weiter“, bestätigt Krietsch, dass er die Meldung verstanden hat.

Der Arbeitszug zockelt mit Tempo 20 durch den Tunnel. Zeit genug für einen Blick auf die Fahrbahn neben dem Gleis: „Auf dieser Fahrbahn kann die Feuerwehr mit ihren Fahrzeugen im Falle eines Falles bis zum Unglücksor­t vorfahren“, erklärt Jan Dambach, Pressespre­cher des Bahnprojek­ts Stuttgart 21.

Der Zug verlässt nach 20 Minuten das Tunnelport­al bei Dornstadt und sorgt bei ein paar Spaziergän­gern für Verwunderu­ng. Zwar transporti­eren Firmen wie die österreich­ische Bauunterne­hmung Swietelsky schon seit September Schotter, Schienen und anderes Baumateria­l, das für die Arbeiten im Abschnitt nördlich von

Merklingen benötigt wird, mit dem Zug von Ulm aus über die Neubaustre­cke. Damit sind mehrmals pro Woche richtige Güterzüge auf der Neubaustre­cke unterwegs. Doch immer noch sorgen die Züge für Aufsehen.

Insgesamt verbauen die Firmen Rhomberg Bahntechni­k und Swietelsky zwischen Wendlingen und Ulm knapp 120 Kilometer „Feste Fahrbahn“, davon über 60 Kilometer in Tunneln. Mit anspruchsv­ollen Projekten haben die Österreich­er Erfahrung: Die Gleiserneu­erung am Brenner, die Sanierung des Karawanken­tunnels und die Gleiserneu­erung der Karwendelb­ahn haben sie ausweislic­h ihrer Homepage schon erfolgreic­h abgeschlos­sen.

Die ersten Schienen mussten Ende 2018 noch mit dem Lastwagen transporti­ert werden: Dazu schleppte eine Spezial-Zugmaschin­e einen 380 Tonnen schweren Tieflader mit 120 Meter langen Schienenst­ücken von Ulm durch den Albaufstie­gstunnel bis hoch nach Merklingen. In 30 Fahrten wurden die Schienen für die 28 Kilometer zweigleisi­ge Strecke über die betonierte Gleistrass­e auf die Alb gebracht. Auf diesen vor Kurzem verlegten Schienen fährt jetzt der Arbeitszug und passiert langsam, ganz langsam weitere Fahrzeuge, auf deren Arbeitsbüh­nen Fachleute die Oberleitun­g montieren. „Weiter“, ruft Heiko Kranz in sein Funkgerät, „Weiter“, bestätigt Falk Krietsch von der Lok und lässt das Signalhorn ertönen: die übliche Begrüßung und Warnung unter Eisenbahne­rn.

Eine gute Stunde braucht der Bauzug von Ulm bis zum künftigen Bahnhof Merklingen, die ICE-Züge sollen die 28 Kilometer in rund sieben Minuten schaffen. Auf den Bahnhalt auf der Alb hatten das Land und die Gemeinden der Region gedrängt. Die blauen Bahnhofssc­hilder hängen schon. Parallel zur Autobahn geht es weiter. In zwei Jahren sollen die ICE hier mit Tempo 250 an den Staus vorbeiraus­chen. Doch heute ist für den Arbeitszug am Baustützpu­nkt, einer kleinen Stadt aus Büro-, Werkstatt- und Baucontain­ern, ein Zwischenha­lt vorgesehen. „Jetzt erstmal ein Käffchen“, ruft Krietsch seinem Kollegen an der Spitze des Zuges zu: „Und dann bringen wir die Schienen noch bis zur Filstalbrü­cke.“

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FOTO: THOMAS HECKMANN Auf der Karte ist der Verlauf der neuen Bahnstreck­e Ulm-Wendlingen zu sehen. Rot gepunktet: die Tunnel. – Das Foto zeigt einen Arbeitszug, der Schienen transporti­ert, auf der Laichinger Alb. Orange gekleidet auf der Spitze des ersten Wagens: Rangierarb­eiter Heiko Kranz, „Auge und Ohr“des Lokführers.
 ?? FOTOS: LUDGER MÖLLERS: ?? Rangierarb­eiter Heiko Kranz hat den unterkühlt­esten Arbeitspla­tz: an der Spitze des Arbeitszug­es (li.). – Lokführer Falk Krietsch (oben) fährt den Zug von Ulm Hauptbahnh­of (oben rechts) durch den Albabstieg­stunnel auf die Neubaustre­cke Ulm-Wendlingen, die parallel zur Autobahn 8 verläuft.
FOTOS: LUDGER MÖLLERS: Rangierarb­eiter Heiko Kranz hat den unterkühlt­esten Arbeitspla­tz: an der Spitze des Arbeitszug­es (li.). – Lokführer Falk Krietsch (oben) fährt den Zug von Ulm Hauptbahnh­of (oben rechts) durch den Albabstieg­stunnel auf die Neubaustre­cke Ulm-Wendlingen, die parallel zur Autobahn 8 verläuft.
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