Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Die wohl letzte Chance
Handelsvertrag zwischen Großbritannien und der EU wackelt erneut – Viel Zeit haben beide Seiten nicht mehr
LONDON - Nach dem längst erwarteten Eingreifen der politisch Verantwortlichen werden die Verhandlungen über das künftige Verhältnis Großbritanniens zur EU fortgesetzt. Für Montagabend haben Premierminister Boris Johnson und die EUKommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ein erneutes Telefonat vereinbart. In Brüssel besteht die Erwartung, dass die erhoffte Vereinbarung diese Woche zustande kommt, damit sie vom Gipfel der Staats- und Regierungschefs am Donnerstag verabschiedet werden kann.
Von der Leyen und Johnson telefonierten am Samstag mehr als eine Stunde lang. Im gemeinsamen Statement war anschließend von „Fortschritt in vielen Bereichen“die Rede, aber auch von „erheblichen Meinungsverschiedenheiten“auf den drei bekannten Problemfeldern: faire Konkurrenzbedingungen, die Schlichtungsinstanzen bei zukünftigen Konflikten der Vertragsparteien sowie die Fischerei in der Nordsee und im Ärmelkanal. Sollten die drei Brocken nicht aus dem Weg geräumt werden, sei keine Vereinbarung möglich. Dann würde Großbritannien an Silvester im Chaos die Übergangsphase beenden, in der seit dem EU-Austritt Ende Januar die bisherigen Bestimmungen für beide Seiten weiter gelten.
Die EU-Experten unter Leitung von Chefverhandler Michel Barnier waren nach gut einwöchigem London-Aufenthalt
am Samstag nach Brüssel zurückgekehrt. Dort fand sich am Sonntag auch der britische Brexit-Verhandler David Frost mit seiner Delegation ein. Unsichtbar mit am Tisch saß ein Bösewicht, jedenfalls nach Meinung der aus der Downing Street unterrichteten britischen Medien: Frankreichs Präsident Emmanuel Macron habe vergangene Woche durch neue Forderungen den eigentlich erzielten Fortschritt infrage gestellt. Beteiligte berichteten der
„Sunday Times“, Delegationsmitglieder beider Seiten hätten sich deshalb nachts „auf dem Gang angeschrien“– normalerweise herrscht über den Fortgang der Gespräche beiderseits eisernes Schweigen.
Dass Macron auf Härte drängen würde, galt unter Brexit-Beobachtern seit Wochen als ausgemacht. Schließlich haben die Fischer in den Häfen entlang des Ärmelkanals die schwersten Einbußen zu erwarten, wenn sich der Status quo demnächst ändert. Paris kann deshalb auf Unterstützung der Niederlande, Belgiens sowie Dänemarks zählen. Hingegen haben Italien und Spanien Bedenken, ob sich die Briten an die Regeln fairen Wettbewerbs halten. Die deutsche Ratspräsidentschaft drängt zudem auf Kompromisse und einen zügigen Vertragsabschluss.
Londons Vertragstreue war zuletzt in Zweifel geraten, weil ein neues Binnenmarktgesetz den erst im Januar ratifizierten Austrittsvertrag teilweise aushebelt. Dabei geht es um das Nordirland-Protokoll, das die Durchlässigkeit der Grenze zwischen dem britischen Teil der grünen Insel sowie der Republik im Süden gewährleisten soll. Vom Oberhaus mehrfach vehement abgelehnt, kehrt die Regierungsvorlage diese Woche ins Unterhaus zurück. Dort kann sich der konservative Premier auf beinahe geschlossene Gefolgschaft seiner Fraktion verlassen, wenn es darum geht, die Einwände der Lords auszuräumen. Pikanterweise hat ausgerechnet Johnsons Amtsvorgängerin Theresa May energischen Widerstand angemeldet: Der Vertragsbruch und die damit einhergehende Missachtung des Völkerrechts sei „waghalsig und verantwortungslos“.
Davon unbeirrt plant die Regierung nun noch ein neues Finanzgesetz, das wiederum Paragrafen des Austrittsvertrags zuwiderläuft. Die Kontroverse darüber dürfte das Verhandlungsklima nicht gerade begünstigen.