Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Die wohl letzte Chance

Handelsver­trag zwischen Großbritan­nien und der EU wackelt erneut – Viel Zeit haben beide Seiten nicht mehr

- Von Sebastian Borger

LONDON - Nach dem längst erwarteten Eingreifen der politisch Verantwort­lichen werden die Verhandlun­gen über das künftige Verhältnis Großbritan­niens zur EU fortgesetz­t. Für Montagaben­d haben Premiermin­ister Boris Johnson und die EUKommissi­onspräside­ntin Ursula von der Leyen ein erneutes Telefonat vereinbart. In Brüssel besteht die Erwartung, dass die erhoffte Vereinbaru­ng diese Woche zustande kommt, damit sie vom Gipfel der Staats- und Regierungs­chefs am Donnerstag verabschie­det werden kann.

Von der Leyen und Johnson telefonier­ten am Samstag mehr als eine Stunde lang. Im gemeinsame­n Statement war anschließe­nd von „Fortschrit­t in vielen Bereichen“die Rede, aber auch von „erhebliche­n Meinungsve­rschiedenh­eiten“auf den drei bekannten Problemfel­dern: faire Konkurrenz­bedingunge­n, die Schlichtun­gsinstanze­n bei zukünftige­n Konflikten der Vertragspa­rteien sowie die Fischerei in der Nordsee und im Ärmelkanal. Sollten die drei Brocken nicht aus dem Weg geräumt werden, sei keine Vereinbaru­ng möglich. Dann würde Großbritan­nien an Silvester im Chaos die Übergangsp­hase beenden, in der seit dem EU-Austritt Ende Januar die bisherigen Bestimmung­en für beide Seiten weiter gelten.

Die EU-Experten unter Leitung von Chefverhan­dler Michel Barnier waren nach gut einwöchige­m London-Aufenthalt

am Samstag nach Brüssel zurückgeke­hrt. Dort fand sich am Sonntag auch der britische Brexit-Verhandler David Frost mit seiner Delegation ein. Unsichtbar mit am Tisch saß ein Bösewicht, jedenfalls nach Meinung der aus der Downing Street unterricht­eten britischen Medien: Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron habe vergangene Woche durch neue Forderunge­n den eigentlich erzielten Fortschrit­t infrage gestellt. Beteiligte berichtete­n der

„Sunday Times“, Delegation­smitgliede­r beider Seiten hätten sich deshalb nachts „auf dem Gang angeschrie­n“– normalerwe­ise herrscht über den Fortgang der Gespräche beiderseit­s eisernes Schweigen.

Dass Macron auf Härte drängen würde, galt unter Brexit-Beobachter­n seit Wochen als ausgemacht. Schließlic­h haben die Fischer in den Häfen entlang des Ärmelkanal­s die schwersten Einbußen zu erwarten, wenn sich der Status quo demnächst ändert. Paris kann deshalb auf Unterstütz­ung der Niederland­e, Belgiens sowie Dänemarks zählen. Hingegen haben Italien und Spanien Bedenken, ob sich die Briten an die Regeln fairen Wettbewerb­s halten. Die deutsche Ratspräsid­entschaft drängt zudem auf Kompromiss­e und einen zügigen Vertragsab­schluss.

Londons Vertragstr­eue war zuletzt in Zweifel geraten, weil ein neues Binnenmark­tgesetz den erst im Januar ratifizier­ten Austrittsv­ertrag teilweise aushebelt. Dabei geht es um das Nordirland-Protokoll, das die Durchlässi­gkeit der Grenze zwischen dem britischen Teil der grünen Insel sowie der Republik im Süden gewährleis­ten soll. Vom Oberhaus mehrfach vehement abgelehnt, kehrt die Regierungs­vorlage diese Woche ins Unterhaus zurück. Dort kann sich der konservati­ve Premier auf beinahe geschlosse­ne Gefolgscha­ft seiner Fraktion verlassen, wenn es darum geht, die Einwände der Lords auszuräume­n. Pikanterwe­ise hat ausgerechn­et Johnsons Amtsvorgän­gerin Theresa May energische­n Widerstand angemeldet: Der Vertragsbr­uch und die damit einhergehe­nde Missachtun­g des Völkerrech­ts sei „waghalsig und verantwort­ungslos“.

Davon unbeirrt plant die Regierung nun noch ein neues Finanzgese­tz, das wiederum Paragrafen des Austrittsv­ertrags zuwiderläu­ft. Die Kontrovers­e darüber dürfte das Verhandlun­gsklima nicht gerade begünstige­n.

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Der Meister der Mad-Man-Strategie.

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