Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Revolution aus dem Schallarchiv
Der Dirigent Hans Rosbaud und seine Aufnahmen der Mahler-Sinfonien mit dem Orchester des Südwestfunks Baden-Baden
BADEN-BADEN - „Das war der Beste“: Mit diesem Satz lobt der heutige Südwestrundfunk (SWR) Hans Rosbaud, der von 1948 bis zu seinem Tod 1962 Chefdirigent des Sinfonieorchesters des früheren Südwestfunks (SWF) in Baden-Baden war. Das Zitat ist eine Erinnerung des Schlagzeugers Erich Seiler, der viele Dirigenten erlebt hat, nachzulesen im Band „Klassik-Avantgarde 19462016“. Diese Festschrift erschien zum 70-jährigen Bestehen des Orchesters im Sommer 2016. Ein skurriles Datum: Denn das Jubiläum fiel mit der Abschaffung des Orchesters zusammen. Der damalige Intendant Peter Boudgoust stellte seiner Gratulation den Satz von Gustav Mahler voran: „Tradition ist nicht Anbetung der Asche, sondern Weitergabe des Feuers“. Weiterzugeben war zu dem Jubiläum nichts mehr.
Auch nicht die besondere MahlerTradition, die das SWR-Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg hatte, dokumentiert durch die Aufnahmen, die Michael Gielen (Chefdirigent 1986 bis 1999) geleitet und in einem Buch kommentiert hat. Vor Gielen hatte Hans Rosbaud MahlerSinfonien im Studio in Baden-Baden produziert, in den Jahren 1954, 1959 und 1961. Die Bänder wurden jetzt klangtechnisch aufbereitet. Zusammen mit Konzerten, die Rosbaud mit dem Orchester des Westdeutschen Rundfunks 1951 und 1955 als Gastdirigent in Köln gegeben hatte, sind sie jetzt zu einer CD-Box zusammengefasst (beim Label SWR-Classic). Dies ist kein kompletter Zyklus – es fehlen die Sinfonien zwei, drei und acht –, aber schlicht die interessanteste Mahler-Box seit Jahren.
Rosbaud muss ein traumhaft souveräner Mahler-Dirigent gewesensein. Aber genau so interessant ist auch der Zusammenhang zur Entstehungszeit der Aufnahmen, den späten 1950er-Jahren. Die liegen im Schatten der prägenden Mahler-Rezeption. Das Jahr 1960 markiert den Beginn einer „Mahler-Renaissance“, bei der die Wiederentdeckung des Komponisten mit dem Aufkommen der StereoLangspielplatte zusammenfällt. Um deren Spieldauer und klangtechnische Möglichkeiten vorzuführen, war Mahler die ideale Teststrecke. Gleich drei Labels starteten Gesamtaufnahmen, deren Wirkung sich dann in den 1970er-Jahre entfaltete.
Verbunden ist diese Renaissance vor allem mit Leonard Bernstein, dessen Zyklus 1967 abgeschlossen war und die größte Verbreitung fand. Bernstein präsentierte die MahlerSinfonik als emotional hoch aufgeladene Erlebniswelt. Da er ein Schüler des Dirigenten Bruno Walter war und Walter seinerseits ein MahlerSchüler, entstand der Eindruck einer direkten Tradition, die für viele Musikliebhaber und Kritiker zur Richtschnur wurde. Bei näherer Betrachtung eine wacklige Konstruktion.
Denn Bruno Walter setzte sich, was er ungern zugab, von Mahlers eigenem Interpretationsstil ab. Den nannte er „zeitgemäß“. Damit meinte er, dass Mahler einen freien Umgang mit den Tempi pflegte. Wie das klang, kann man heute noch auf dem Welte-Mignon-Flügel hören, einem 1905 in Freiburg erfundenen mechanischen Klavier, das von einer Lochstreifenrolle angesteuert wird. Berühmte Musiker haben Stücke für die Maschine eingespielt, darunter auch Mahler den Klavierpart einiger seiner Lieder.
Zuspitzungen und Verlangsamungen des Tempos, wie sie Mahler am Klavier vorführt (und wie sie auch für seinen Dirigierstil bezeugt sind), erklingen nun bei den Mahler-Aufnahmen von Hans Rosbaud. Wobei man hier nicht so sehr den Eindruck gewinnt, dass diese Rubato-Technik ein altmodischer Stil ist, sondern vielmehr ein elementarer Bestandteil von Mahlers Musik. Begreift man Musik als Klangsprache, dann beginnen Mahlers Sinfonien bei Rosbaud weit deutlicher zu sprechen, als dann in der klangtechnisch fortgeschrittenen Stereo-Zeit.
Eine weiteres Merkmal von Mahler ist, wie sein Biograf Jens Malte Fischer formuliert, „die Überfrachtung der Partituren mit Anweisungen für Orchester und Dirigenten“. Auch sie werden heute oft als „zeitgebunden und veraltet“abgetan. Oder als obsolet geworden „durch die Verbesserung der Orchester“. Dagegen kommt der Dirigent Adam Fischer, der mit den Düsseldorfer Symphonikern die jüngste Mahler-Gesamtaufnahme einspielt (ihre Aufnahme der 9. Sinfonie ist soeben beim Label Avi-Music erschienen), nicht nur immer wieder auf das Vorbild der Welte-MignonAufnahmen Mahlers zu sprechen, er beurteilt auch diese peniblen Aufführungshinweise
anders. Sie würden bei den Musikern – und auch bei ihm selbst – oft Widerwillen erzeugen, weil man sich bevormundet fühle. Er erzählt, wie er als Student in Wien, nach sorgfältigem Partitur-Studium, seine erste Mahler-Sinfonie hörte und schnell merkte, dass die Musiker keinerlei Anstalten machten, Mahlers Vorschriften zu beherzigen. Etwa die Hörner, die an bestimmten Stellen aufstehen sollten. Er habe einen Hornisten gefragt, warum sie sitzen geblieben seien. Die Antwort: „Hören’s, mir san doch ned im Zirkus“.
Fischer sagt, er habe jedoch die Erfahrung gemacht, dass es schlicht vorteilhaft sei, den detaillierten Angaben Mahlers zu folgen. Er habe „fast immer recht“damit.
Mahlers eigener Vortragsstil wie die Fülle seiner Anweisungen zielen darauf, den oft langen, fast halbstündigen Sätzen einen Reichtum an innerer Gestaltung zu geben. Genau das ist bei Rosbaud zu erfahren. Für den Musikkritiker und Dirigenten Christoph Schlüren, der den Text im Booklet der Mahler-Box beigesteuert hat, sind Rosbauds facettenreiche Aufnahmen eine „Revolution des Mahler-Bildes“.